# taz.de -- John Darnielle über seinen Debütroman: „Das Auto definiert, wer… | |
> Zukunftsangst regierte in den 70er-Jahren in den USA. In der Zeit spielt | |
> „Wolf in White Van“. Der Autor Darnielle über den American Dream, | |
> Parkplätze und Gewehre. | |
Bild: Mit der Karre unterwegs: Pärchen im Dodge in 1966, USA | |
taz: John Darnielle, bei Kalifornien denken deutsche LeserInnen zuerst an | |
Hollywood und San Francisco. In Ihrem Roman kommt ein anderes, weitgehend | |
unbekanntes vorstädtisches Kalifornien zum Vorschein. Was gäbe es zum | |
Setting zu sagen? | |
John Darnielle: Ich beschreibe eine Gegend im Süden mit bezahlbarem | |
Wohnraum und funktionierender Infrastruktur, wie sie es so heute nicht mehr | |
gibt. Was heute noch genauso ist wie früher: Das Leben spielt sich vor | |
allem auf dem Parkplatz vor der Schule ab. | |
Die Great American Novel existiert als Mythos, der viel mit der | |
wirkmächtigen Landschaft und der Weite des Landes zu tun hat. In Ihrem | |
Roman ist die Landschaft eher städtisch und begrenzt. | |
Ja, in Südkalifornien sind Orte wie der Schnapsladen und der Parkplatz vor | |
der Highschool zentral. Denken Sie nur an den Film „River’s Edge“. In Los | |
Angeles ist sogar der Fluss, der Los Angeles River, ausgetrocknet. In den | |
Bewässerungskanälen skaten die Kids. | |
Definieren Sie bitte den Parkplatz? | |
Die Amerikaner verbringen einen Großteil ihres Lebens im Auto. Sie | |
verschmelzen visuell damit, der Wagen ist eine poetische Repräsentation | |
ihrer selbst. Selbst Autotypen haben sprechende Namen: „Mustang“, | |
„Prowler“, „Camaro“. Als ich 16 wurde, war das das große Ding. Das eig… | |
Auto war gleichbedeutend mit Flucht, mit Entwischen. Es bedeutete größerer | |
Radius, freier Zugang. Im Auto rauchte ich meine erste Kippe. Im Auto hatte | |
ich die ersten tiefsinnigen Gespräche. Oder sie fanden, an das Auto | |
gelehnt, auf dem Parkplatz der Highschool statt. | |
Der Parkplatz als Treffpunkt. | |
Ja, er ist eine soziale Achse. Dort bin ich noch einen Moment im Wagen | |
geblieben, habe den Song zu Ende gehört, bevor ich in die Schule bin. Im | |
Auto habe ich bedeutsame Tränen vergossen. Es gibt viele Filme, in denen im | |
Auto auf dem Parkplatz geweint wird. Mit diesem Bewusstsein bin ich | |
aufgewachsen, das Auto definiert, wer ich bin … | |
Wie stellt sich das Alltagsleben Ihres Protagonisten Sean Phillips dar? | |
Träumt er den American Dream ? | |
Er ist zuallererst orientierungslos, so wie viele 18-Jährige seiner | |
Generation. Wenn wir als Amerikaner vom American Dream reden, meinen wir | |
damit meist gesellschaftliche Normen: Wohlstand, Beliebtheit, solche | |
Sachen. Und wir hoffen, dass wir die Welt dereinst in einem besseren | |
Zustand hinterlassen als dem, in der wir sie vorgefunden haben. Was Sean | |
angeht, denkt er kaum über die Zukunft nach, er ist mehr mit der Gegenwart | |
beschäftigt. In den frühen Siebzigern hatten Utopien keine Konjunktur. | |
Stattdessen regierten Zukunftsängste. Sie hatten mit dem Kalten Krieg und | |
der Atombombe zu tun. Durch Hiroshima machte sich bei der jungen | |
US-Bevölkerung fundamentale Verunsicherung breit. | |
„Wolf in White Van“, Ihr Buchtitel ist eine Anspielung auf eine satanische | |
Botschaft in einem Heavy -Metal-Song. | |
Ja, der christliche Rocksänger Larry Norman hatte einen Song namens „666“ | |
und darin kam diese Botschaft vor. | |
Sean Philipps ’ Gesicht ist entstellt, nachdem er sich mit einem Gewehr ins | |
Gesicht geschossen hat. Diese Tat hat Parallelen zu einer wahren | |
Begebenheit. Was bedeutet dieses Unglück für den Protagonisten Ihres | |
Romans? | |
Er lernt eine ganze Menge, während er in seinem Zimmer an die Decke starrt. | |
In dieser selbst gewählten Isolation stellt er fest, dass die Windungen | |
seines Gehirns unendlich weit sind. Das Gehirn kann dein bester Freund | |
sein, genau wie dein schlimmster Feind, alles, was es zum Leben braucht, | |
ist da drin. Das beruhigt Sean, denn er begreift, dass er nach seinem | |
Schuss nie wieder derselbe sein wird. | |
Fakt ist, er hat Zugang zu einem Gewehr, mit dem er sich selbst richtet. | |
Mit Gewehren wurden nicht nur in den USA zahlreiche Massaker und Amokläufe | |
begangen. Die Waffengesetzgebung in den USA ist aber besonders lax. | |
Unsere Waffengesetze sind barbarisch. Es ist schrecklich. Es gibt sie noch | |
nicht allzu lang und sie wirken immer noch wie ein Experiment. | |
Vielleicht wäre Sean Phillipps einfach nur ein Außenseiter, ein Nerd, wenn | |
er nicht Zugang zu einer Waffe haben würde. Kritisieren Sie mit Ihrem Roman | |
die US-Waffengesetzgebung? | |
Dass die Waffenkultur so tief im Bewusstsein von uns verankert ist, | |
kommentierte ich gar nicht. Ich beschreibe das als Fakt der | |
gesellschaftlichen Verhältnisse. Auch wenn ich es total verrückt finde, wie | |
leicht man hier Waffen kaufen kann, will ich mein Buch nicht als platte | |
Kritik verstanden wissen. Für Sie und mich ist klar, wenn ich ein Gewehr zu | |
Hause hätte, müsste es zumindest unzugänglich für meine Kinder aufbewahrt | |
sein. Auch wenn die Kinder vollkommen bei geistiger Gesundheit sind. Gerade | |
Jugendliche handeln oftmals impulsiv. Aber, auch das ist ein Fakt, viele | |
junge Menschen in den USA haben Zugang zu Waffen. | |
Ist Sean denn ein typischer impulsiver Waffennutzer? | |
Er ist nicht nur ein gesellschaftlicher Außenseiter, er ist vollkommen auf | |
sich selbst gestellt. Er kommuniziert mit anderen nur aus der Distanz. | |
Und er erschießt sich mit dem Gewehr seines Vaters. | |
Sein Vater geht damit auf die Jagd. So wie viele Amerikaner. Rausgehen und | |
sich mit dem Gewehr vom Vater abknallen, ist dagegen eher selten. Aber mit | |
dem Gewehr und den Freunden und ihren Gewehren und den Kindern gemeinsam | |
auf die Jagd gehen, ist weit verbreitet. | |
Eine der Popikonen unserer Zeit, Kurt Cobain, hat sich mit dem Gewehr | |
erschossen. | |
Genau wie Ray Belknap und James Vance, 1985. Ihre Tat war eine Vorlage für | |
meinen Roman. Das waren zwei Judas-Priest-Fans in Nevada, die Musik gehört | |
haben, Bier getrunken haben, schlecht drauf kamen und sich erschossen | |
haben. Belknap starb, Vance hat schwer verletzt überlebt. Ihre Familien | |
haben Judas Priest wegen Anstiftung zum Selbstmord verklagt. Es war ebenso | |
eine Geschichte über den Niedergang der amerikanischen Familie als über | |
Knarrenkultur. Befürworter von Waffen werde immer behaupten, in einer | |
intakten Familie ist ein Gewehr in sicheren Händen. Aber wie definiert man | |
intakt? Und welche Familie ist schon intakt? | |
Täusche ich mich, oder ist Ihr Roman düster? Auch wenn er in der Moderne | |
angesiedelt ist, hat er Momente, die es auch in der Schauerromantik gab. | |
Mein Roman ist düster, aber pessimistisch ist er nicht. Sean überlebt seine | |
Tat schwer verletzt, er wirkt zwar hinterher fürchterlich deprimiert, aber | |
er geht nicht daran zugrunde. Er kapiert, dass er noch von anderen Menschen | |
gebraucht wird. Trauer und Bestürzung machen nur einen Teil des Romans aus. | |
Heute scheinen die USA stärker polarisiert als je zuvor. Warum ist das so? | |
Ich würde mich nicht als Linken bezeichnen, aber wenn ich mein Land | |
momentan betrachte, dann sind Anzeichen einer gesellschaftlichen Krise | |
erkennbar, die man mit marxistischer Dialektik betrachten kann. Viele | |
fragen sich, warum sie so viel und so hart arbeiten müssen, während andere | |
daraus scheinbar unendlich Profit ziehen. Und diejenigen, die das tun, | |
müssen nicht so hart arbeiten. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist | |
riesengroß. Daraus ziehen die Amerikaner unterschiedliche Lehren. Manche | |
sitzen gar der Propaganda von Donald Trump auf, der behauptet, dass die USA | |
durch Einwanderung bedroht sind. | |
Wie finden Sie das? | |
Es ist an den Haaren herbeigezogener Quatsch. Das Problem ist, dass unser | |
Reichtum ungleich verteilt ist, den Minderbemittelten und ärmeren Schichten | |
fehlt es an gesellschaftlicher Teilhabe. Die Lösung ist kompliziert. Leider | |
glauben viele Menschen den einfachen Antworten, sie brauchen Sündenböcke. | |
In meinem Roman gibt es keine Sündenböcke. | |
20 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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