# taz.de -- Loblied auf das EU-Parlament: Wir sind's | |
> Die EU hat ein Demokratiedefizit, ist umständlich und bürokratisch? | |
> Schon. Aber im Parlament sieht man, was die Europäische Union kann. | |
Bild: Es ist eine Errungenschaft, dass die Sitzungen überhaupt stattfinden: EU… | |
Straßburg taz | Europa ist in einem Ufo untergebracht. In Straßburg, gleich | |
hinter den säuberlich gestutzten Hecken einer rosafarbenen Villensiedlung, | |
thront das zylinderartige Gebäude des Europaparlaments und sieht aus wie | |
ein versehentlich gelandetes Raumschiff. | |
Es beherbergt Europas kühnste Vision: In einem Raum sitzen 750 Männer und | |
Frauen aus 28 Ländern, die sich in 24 Sprachen zu verständigen versuchen. | |
Auf den ersten Blick scheint das ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ist es | |
nicht eigentlich die mutigste und schönste aller europäischen Ideen? | |
Das fragt man sich, wenn man auf der Besuchertribüne des Straßburger | |
Plenarsaals sitzt und via Kopfhörer eine kleine Reise quer durch die 24 | |
Amtssprachen unternimmt. Kanal drei, bonjour la France! Dann ein kleiner | |
Abstecher nach Estland, Nummer 13. Bis man herausgefunden hat, dass | |
Ungarisch „Magyar“ heißt und die Nummer 16 hat, hat man schon versehentlich | |
mit dem Ellenbogen Kanal null eingestellt: Originalton. Ein Italiener | |
spricht auf Englisch über das Schicksal der Polen, das uns alle sehr | |
betroffen machen solle. | |
Man nickt. Überlegt kurz, in welcher Sprache man ihm da gerade eigentlich | |
gedanklich zugestimmt hat. Und in diesem Moment packt sie zu, die | |
Gänsehaut. | |
## Die EU hat ein Problem | |
Warum nur scheinen immer weniger an Europa zu glauben? Die Beteiligung an | |
der Wahl des Parlaments ist seit der Gründung 1979 kontinuierlich gesunken, | |
zuletzt betrug sie nur noch 42,6 Prozent. Das größte Problem der | |
Institution sind die Zweifel an seiner Funktionalität. Trotz seiner | |
Stärkung durch den Vertrag von Lissabon 2009 hat das Europaparlament nach | |
wie vor kein Recht, Gesetzesinitiativen einzubringen. Nicht zuletzt wegen | |
Hinterzimmerlösungen wie denen der Finanz- und Regierungschefs in der | |
Eurokrise gilt es vielen als niedliches Abnickparlament, letztlich | |
chancenlos gegenüber Kommission und Mitgliedstaaten. | |
Und der Standort, Straßburg, die Stadt, die auf ihre Müllsäcke stolz | |
„eurométropole“ druckt, macht die Sache nicht einfacher. Warum tagt ein | |
Parlament an zwei Orten? Groß ist die Empörung über den Wanderzirkus, den | |
man allmonatlich für ein paar Tage von Brüssel hierher veranstaltet. Manche | |
würden das gerne ändern, doch hier zeigt sich das fieseste aller | |
europäischen Strukturprobleme: Dazu bräuchte es eine Vertragsänderung, und | |
für die ist Einstimmigkeit im Rat nötig. Straßburg aufzugeben, ist mit den | |
Franzosen nicht zu machen. | |
Das Europaparlament steht sinnbildlich für ein Narrativ, das sich seit dem | |
Brexit immer mehr in der europäischen Öffentlichkeit verfestigt: Die EU hat | |
ein Problem. | |
Besucht man aber das Parlament, kann man es auch anders deuten: Die EU löst | |
ein Problem. Sie verwandelt viele disparate Strömungen in ein Wir. | |
## Was sollen wir tun? | |
Der Straßburger Plenarsaal sieht aus, als habe man den Sarkophag von | |
Tschernobyl aus Holz nachgebaut. Eine riesige Kuppel über vier Stockwerke, | |
mitten in der Glasrotunde des Gebäudes, glatt und verschlossen. Der Boden | |
ist mit schwarzem Linoleum ausgelegt; es riecht leicht nach | |
Provinzkrankenhaus. Aus einem der katakombenhaften Ausgänge eilt ein | |
kleiner Mann. „Bitte nehmen Sie Platz. Die Sitzung wird fortgesetzt.“ | |
Martin Schulz verliert keine Zeit und verteilt keine Herzlichkeiten. | |
In den folgenden Stunden und Tagen wird man Zeuge emotionaler, ernsthafter | |
und vor allem: inhaltlicher Debatten. Die stärksten sind jene, die am | |
Selbstverständnis dieser Versammlung rütteln: wenn es um den Rechtsruck in | |
Polen geht, die Zusammenarbeit mit der Türkei, den Steuerdeal mit Apple – | |
und natürlich die Lage der Union selbst. | |
Man erlebt dann Europa im Kleinen, weil weniger für Einzelne gestritten | |
wird – Staaten, Parteien, Interessen –, sondern wieder und wieder dieselben | |
Frage im Raum stehen, auch wenn niemand sie so stellt: Was ist Europa? Was | |
sollen wir tun? Wie weit können wir gehen? | |
Von der geradezu lebensfeindlich klimatisierten Tribüne aus fällt der Blick | |
auf die 24 Dolmetscherkabinen. Hinter braun getöntem Glas sitzen jeweils | |
drei Dolmetscher. Wenn der Italiener Gianni Pittella von den | |
Sozialdemokraten seinen Faden verloren hat, warten sie geduldig. Wenn die | |
Französin Marine Le Pen ins Pseudohysterische kippt, versuchen sie sich an | |
einer Imitation. | |
Will ein Redner die besondere Ernsthaftigkeit seines Anliegens beweisen, | |
versucht er sich demonstrativ in etwas anderem als der Muttersprache. Das | |
kann man prätentiös finden oder anbiedernd. Aber es zeigt auch: Man will | |
verstanden werden. Wie, wenn nicht so, soll Europa funktionieren? | |
## Sitzungen mit Würde | |
Der Blick wandert weiter auf die Bänke ganz außen links, die tatsächlich | |
ganz rechtsaußen sind. In Straßburg hat man plötzlich alle einzelnen | |
Schreckgespenster europäischer Demokraten vor sich versammelt. Diese Leute | |
sind nicht hier, um mitzumachen. Sie sind hier, um die Idee zu zerstören, | |
an deren Umsetzung die anderen arbeiten. Wenn sie in Abstimmungen ihre | |
roten Lämpchen blinken lassen, was „dagegen“ bedeutet, verdichtet sich das | |
ständige Raunen, Europa sei in Gefahr, auf einmal zu einem bedrohlich | |
Konkreten. | |
Man verzweifelt angesichts des obszön zur Schau gestellten | |
Weil-wir’s-können der Rechten, möchte am liebsten gehen – aber die anderen | |
unten bleiben ja auch. Der Umgang im Plenarsaal ist – bis eben auf | |
gelegentliche Ausfälle vom Rand her – von erstaunlicher Höflichkeit. | |
Ständig bedankt sich jemand – fürs Zuhören, für die anregende Debatte, f�… | |
die wichtigen Impulse, für die hervorragende Zusammenarbeit. Im Bundestag | |
kommt das selten vor, und wenn, dann meist sarkastisch. | |
Hier aber herrscht ein Ton, der ständig zu erinnern scheint: Dass diese | |
Sitzungen überhaupt stattfinden, ist schon eine Errungenschaft, führen wir | |
sie also mit Würde. | |
## Jeder kann etwas reißen | |
Will man erleben, wie groß die Begeisterung eines Einzelnen für das | |
parlamentarische Europa werden kann, muss man in die „Members Bar“ im | |
ersten Stock fahren. Dort sitzt Bernd Posselt mit seiner Referentin und | |
einem doppelten Espresso. Für Posselt ist das Europaparlament das Größte. | |
Er kennt und verehrt es seit dessen Gründung, darunter zwanzig Jahre lang | |
als Abgeordneter. Bis zur letzten Wahl. Posselt ist kein Member mehr, nur | |
noch „ehrenamtlich“, wie er es nennt. Aber er kommt noch immer in jeder | |
Plenarwoche her. „In Straßburg“, sagt er, „verkörpert das Parlament eine | |
Idee. In Brüssel ist es technokratisch.“ | |
Das Europaparlament hält er für die demokratischste aller EU-Institutionen. | |
„Man ist unglaublich frei.“ Tatsächlich gibt es keinen Fraktionszwang, | |
höchstens Disziplin. Die jeweiligen Fraktionsspitzen in der ersten Reihe | |
zeigen den Daumen hoch oder runter, während sie möglichst einnehmend nach | |
hinten blicken. Wenn dann abgestimmt wird, blinkt es zwischen vielen grünen | |
Lämpchen regelmäßig rot auf. | |
Im Europaparlament kann – theoretisch – jeder etwas reißen, der die | |
überzeugenderen Argumente, den schlüssigsten Änderungsantrag hat. | |
Mehrheiten finden sich immer wieder neu zusammen. Hauptsache, am Ende steht | |
ein Ergebnis. | |
Manchen ist das zu viel Konsensromantik. Terry Reintke, junge Abgeordnete | |
der Grünen und erst seit 2014 dabei, sagt: „Wir müssen stärker streiten, | |
anstatt immer nur um Kompromisse bemüht zu sein.“ Man solle es auch mal | |
drauf ankommen lassen, findet sie – und sich nicht von den Rechtspopulisten | |
dazu nötigen lassen, eine einzige große, proeuropäische Koalition | |
darzustellen. | |
## Wir tragen alle Kopfhörer | |
Ob sie dafür eine Mehrheit findet? In Straßburg fällt sehr häufig das Wort | |
„Wir“. Wir müssen uns kümmern, wir sollten versuchen, wir wollen – und … | |
fort. Selten ist die Fraktion oder die Nationalität gemeint. Wir, das ist | |
eigentlich immer eher zu verstehen als: wir als Parlament, wir Europäer. | |
Es ist schwer, sich diesem Wir zu entziehen. Schon deshalb, weil alle hier | |
auf die schwarzen Kopfhörer angewiesen sind, über die sie die Übersetzungen | |
hören können. Sie lassen alle gleich aussehen. Was europäische Identität | |
bedeutet, spürt man nicht so sehr an einem verwaisten Grenzhäuschen | |
irgendwo im Schengenraum. Sondern in diesem Saal. | |
Mag sein, dass es Konstruktionsfehler gibt, dass die Koalition auch hier zu | |
groß ist, dass die Zeiten unschöner werden. Aber solange sich diese 750 | |
hier versammeln, um aus vielen Sprachen und Interessen ein großes Ganzes zu | |
finden, versteht man Europas Vision in all ihrer schönen Unmöglichkeit: Es | |
gibt ein Wir, an dem sich alle reiben und doch irgendwie zueinanderfinden. | |
An dieses kleine Europa kann man glauben – warum also nicht auch an das | |
große? | |
23 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Johanna Roth | |
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