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# taz.de -- Debatte Europa: Holzschnitte und Blaupausen
> Gleichheit, Demokratie, Gewaltenteilung, Migration: Man kann, ja man
> sollte sich Europa auch als echte Republik vorstellen.
Bild: Come together – aber wo und wie?
Ich hatte ihn damals aus einer Zeitung ausgeschnitten, aber bei einem der
Umzüge ging er verloren: der Holzschnitt aus der Nelkenrevolution von 1974.
Am linken Rand die portugiesische Kleinbauernfamilie, daneben die Phalanx
europäischer Heroen: Platon neben Einstein, Chaplin neben Kant, Picasso
neben Victor Hugo. Willkommen zurück, rufen sie und schütteln die Hände der
barfüßigen Landleute, nach all den Jahrzehnten, in denen die europäischen
Eliten den faschistischen Diktator Salazar geduldet hatten – der war ja
schließlich ein Shareholder des „christlichen Abendlandes“ gewesen.
Das kleine, schwarzweiße Plakat stand mir wieder vor Augen, als ich Ulrike
Guérots flammende Kampfschrift [1][„Warum Europa eine Republik werden
muss“] las.
Als hätte die Demokratietheorie sich noch nicht von der Volkssouveränität
und Rousseau verabschiedet und das alteuropäische Erbe noch verpflichtende
Kraft, wird da das Projekt einer Europäischen Republik aufgerufen. Man
liest’s, und für einen Augenblick ist alle realistische Müdigkeit
weggeblasen, ob so viel unverfrorenen Zutrauens zu Ideen.
## Verknüpfte Traditionsfäden
Von Platon über Thomas Morus’500 Jahre altes „Utopia“ bis zu Immanuel Ka…
John Maynard Keynes und Hannah Arendt verknüpft Guérot philosophische und
historische Traditionsfäden, um ein kontinentales Gemeinwesen zu
propagieren, das die Finanzen kontrolliert, die Ungleichheit der Vermögen
und Einkommen mildert, die Grundversorgung der Bürger mit Verkehrsmitteln,
Medizin und Bildung garantiert.
Besitz statt Eigentum; durch Technik gesicherter Zeitwohlstand, der zur
Politik überhaupt erst befähigt – alte Ideen. Für deren Verwirklichung die
Zeit reif sei, wie Guérot findet. Weil alle materiellen Voraussetzungen
gegeben sind und weil Europa in schlechter Verfassung ist: Ein
kapitalistischer Markt ohne gestaltenden Staat, eine Ungleichheitsmaschine
mit einem Parlament ohne wirkliche Macht und dem Europäischen Rat als
Machtzentrum, in dem nationale Egoismen und innenpolitische Interessen die
Beschlüsse prägen.
Aber die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Ungleichheit,
Klimawandel, Arbeitslosigkeit, Migration – werden demokratisch nur zu
bestehen sein in einem Europa der Gleichheit: mit gleichem Wahlrecht,
Gewaltenteilung, gleichen Steuern, gleichen Sozialsystemen in allen
Regionen. Der Weg in ein solches Europa aber bleibt versperrt, solange
nicht die Bürger des Kontinents, sondern die nationalen Eliten an den
politischen Hebeln sitzen.
## Zulauf von den Liberalisierungsverlierern
Die Europäische Republik – ein schöner, radikaler Gedanke, nur: Es steht
schlecht um das „historische Subjekt“, nach dem Guérot Ausschau hält. Die
„Generation Erasmus“, gut ausgebildet und polyglott, reist, feiert und
gründet Start-ups grenzüberschreitend, ist über TTIP informiert und sozial
engagiert – aber denkt gar nicht daran, als Gegenelite die EU zu
reformieren. „Wie der Teufel das Weihwasser meiden sie die Institutionen.
Sie suchen nicht die Macht, sie sind die Kinder des Poststrukturalismus,
der ihnen beigebracht hat, dass Macht diffus ist, Hierarchien autoritär und
Institutionen träge. Sie zahlen einen hohen Preis dafür: Bei aller
faszinierender Kreativität erreichen sie nicht die Steuerknüppel des
Systems. Während sie Projekte machen, rocken Frauke Petry und Marine Le Pen
die öffentlichen Plätze. […] Ein System aber, das den gebildeten Teil
seiner Jugend nicht mehr anzieht, hat ausgedient.“
Auf der anderen Seite des Bildungsspektrums bekommen die
Talmi-Konservativen und Protofaschisten ungebremsten Zulauf von den
Liberalisierungsverlierern: historischen und politischen Analphabeten, die
auf dem Lande oder in Vororten leben, unqualifiziert und von den
Arbeitsmärkten ausgesperrt, und auf sich selbst, ihre Region, ihre
Vorurteile und ihre Zukunftsangst zurückgeworfen sind. Einstweilen machen
die alten Eliten immer weiter, unbeirrt von Krisen, Ungleichheit,
demokratischem Bürgerzorn und dumpfer Kritik von rechts (auch die mit
treffenden Argumenten).
Die Migration, dieses erst beginnende „Rendezvous mit der Globalisierung“,
und der Brexit werden, so denkt Guérot, die Tendenzen zu einem Europa à la
carte verstärken: mit mehr oder weniger Pressezensur, völkischem oder
klerikalem Protofaschismus, mehr oder weniger Ökologie oder Klimapolitik –
zusammengehalten durch einen oligopolistischen Markt und eine
Militarisierung der Grenzen. Das einzige Projekt, von dem sich „Realisten“
zurzeit „mehr Europa“ versprechen.
Eine Europäische Republik, die nachhaltig wirtschaftet, ihren Wohlstand und
ihre technologische Potenz, ihre ökologische Aufgeklärtheit in den Dienst
einer kommenden Weltgesellschaft stellt: Einstweilen schwebt sie in der
Gedankenluft – als „Entwurf in den Schubladen für den Moment, wo die
Morosität das derzeitige europäische System zum Einsturz gebracht haben
wird“.
## Spätabendliche Spekulationen
Aber gerade weil für diese Europäische Republik zurzeit alle
Voraussetzungen fehlen, spekuliert man nach der Lektüre der überaus
gebildeten und unterhaltsamen Streitschrift am späteren Abend gern weiter:
Wie denn eine europäische Öffentlichkeit wachsen könnte, die nicht nur für
Intellektuelle und Idealisten anziehend wäre. Merkwürdige Dinge fallen
einem da ein, verspielte wie eine Tour d’Europe: ein Radrennen von
Spitzbergen bis Porto, von Riga bis Santiago de Compostela, mit einer
Profiklasse und einer für alle europäischen Enthusiasten.
Oder gigantische wie ein Sozialdienst für alle jungen Europäer als letztes
Schuljahr, abzuleisten in einem anderen Land, eine neue, obligatorische
Stufe der Bildungskarriere zwischen Schule und Beruf: eine Europa
ergreifende Revolutionierung des Bolognamodells. Junge Iren, die in
Rumänien Biolandwirtschaft betreiben, Spanierinnen, die in Deutschland
Schulen renovieren, Schottinnen, die süditalienischen Computeranalphabeten
auf die Sprünge helfen, Holländer, die in Albanien Solardächer montieren –
und die Enkel der portugiesischen Kleinbauern, die in Finnland alte
Menschen betreuen.
Wäre das kein gutes Propädeutikum für die Europäische Republik – nach all
den Jahrzehnten, in denen wir ein Europa der Shareholder geduldet haben?
23 Sep 2016
## LINKS
[1] https://www.perlentaucher.de/buch/ulrike-guerot/warum-europa-eine-republik-…
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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