| # taz.de -- Großbritannien nach dem Brexit: Wo geht's hier zum Ausgang? | |
| > Vor drei Monaten stimmten die Briten für den Brexit, passiert ist seitdem | |
| > wenig. Weil Premier May zögert, gibt der Außenminister den Ton vor. | |
| Bild: Agiert bislang zurückhaltend: Theresa May | |
| Boris Johnson ist wieder da. „Wir müssen zusammenarbeiten, Befürworter des | |
| Austritts und Befürworter des Verbleibs, um die gewaltigen Chancen zu | |
| ergreifen, die unser Land jetzt hat“, tönte der britische Außenminister vor | |
| einer Woche in einer Videobotschaft. „Eine positive und aufregende neue | |
| Beziehung nicht nur mit der EU schmieden, sondern mit dem Rest der Welt; | |
| Großbritannien verändern und es wieder global gestalten.“ | |
| Vor der Brexit-Volksabstimmung am 23. Juni war Johnson der bekannteste | |
| Wortführer der Austrittskampagne, die das Referendum schließlich mit 52 | |
| Prozent der Stimmen gewann. Als er sich danach politisch zurückzog, warf | |
| man ihm vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Eine kurzsichtige | |
| Kritik: Johnson wurde Außenminister unter der neuen Premierministerin | |
| Theresa May – und jetzt prägt er erneut die Diskussion, während seine | |
| Chefin, einst Brexit-Gegnerin, sich nicht aus der Deckung locken lässt. | |
| „Vote Leave“ hieß im Frühjahr die erfolgreiche Brexit-Kampagne, geleitet | |
| von der deutschstämmigen Labour-Abgeordneten Gisela Stuart und dem | |
| damaligen konservativen Justizminister Michael Gove. Der scheidende | |
| Londoner Oberbürgermeister Boris Johnson war das Zugpferd. „Change Britain“ | |
| heißt jetzt die Brexit-Kampagne für die Austrittsverhandlungen, wieder | |
| geleitet von Gisela Stuart sowie – nach Goves Rückzug aus der Politik – dem | |
| ehemaligen konservativen Oberhausvorsitzenden Robert Salisbury. Und während | |
| 27 Mitgliedstaaten auf dem EU-Gipfel über die Zukunft der Union ohne | |
| Großbritannien diskutieren, taucht wieder Boris Johnson als | |
| Brexit-Aushängeschild auf. | |
| Es dient jetzt also ein Regierungsmitglied als Gesicht einer | |
| überparteilichen Kampagne, die als eine von mehreren im Entstehen | |
| begriffenen Brexit-Kampagnen die Regierungschefin unter Druck setzen will. | |
| „Change Britain“ vereint Tory- und Labour-Abgeordnete und will nicht nur | |
| den EU-Austritt gestalten, sondern auch, wie der Name sagt, Großbritannien | |
| verändern. „Die Wirtschaft stärken, unsere Demokratie verbessern und | |
| bessere öffentliche Dienstleistungen anbieten“, nennt „Change Britain“ a… | |
| Hauptziele: „eine inklusive Gesellschaft aufbauen; jenen entgegentreten, | |
| die Spaltung ausnutzen wollen; und Entscheidungsträger mit den Menschen | |
| verbinden“. | |
| ## Das Misstrauen wächst | |
| Das ist schon ein halbes Wahlprogramm, und eigentlich versprach | |
| Premierministerin May selbst genau solche Dinge, als sie am 13. Juli ihr | |
| Amt antrat. Zum Brexit sagte sie damals allerdings bloß: „Brexit heißt | |
| Brexit“ – eine mittlerweile gern persiflierte Tautologie. | |
| Präzisierungsversuche der drei verantwortlichen Kabinettsmitglieder Boris | |
| Johnson (Außenminister), Liam Fox (Außenhandelsminister) und David Davis | |
| (Brexit-Minister) werden von May immer mit den Worten abgebügelt, das sei | |
| nicht die Haltung der Regierung. | |
| Aber was ist die Regierungspolitik? Einiges scheint klar. Es wird weder ein | |
| zweites Referendum noch vorgezogene Neuwahlen geben, die Legislaturperiode | |
| läuft bis 2020 und in dieser Zeit wird der EU-Austritt vollzogen. Aber was | |
| Großbritannien bei den Austrittsverhandlungen anstrebt, ist ebenso offen | |
| wie ihr Zeitpunkt. Die EU sieht eine Zweijahresfrist vor, die mit der | |
| Aktivierung des Artikels 50 der EU-Verträge anläuft. Der von Davis dafür | |
| genannte Zeitpunkt Anfang 2017 steht aber schon wieder infrage. | |
| Und je länger es dauert, desto größer wird das Misstrauen – vor allem bei | |
| der rechtspopulistischen Ukip, die bei „Change Britain“ ebenso | |
| ausgeschlossen ist wie davor bei „Vote Leave“ und deren Führer Nigel Farage | |
| am 16. September seine Abschiedsrede als Parteichef hielt. | |
| ## Verbleib im Binnenmarkt? | |
| Man werde Theresa May im Wahlkampf 2020 an drei Dingen messen, drohte | |
| Farage: ob es wieder die alten blauen britischen Reisepässe gibt; ob | |
| Großbritannien die Kontrolle über seine Fischereigewässer zurückerhalten | |
| hat; und ob das Land aus dem Binnenmarkt ausgetreten ist. | |
| Das Hauptargument für den Brexit war der Wunsch gewesen, den Zuzug von | |
| EU-Bürgern nach Großbritannien begrenzen zu können: Polen haben dieses Jahr | |
| Inder als die größte ethnische Minderheit des Landes abgelöst, und seit dem | |
| Amtsantritt der Konservativen 2010 hat sich die Zahl der in Großbritannien | |
| arbeitenden EU-Bürger auf 2,23 Millionen verdoppelt, über die Hälfte davon | |
| aus Osteuropa. Zuwanderungsbeschränkungen sind nicht möglich, solange | |
| Großbritannien im europäischen Binnenmarkt bleibt, der den freien Verkehr | |
| von Waren, Personen und Dienstleistungen regelt. | |
| Vom Verbleib im Binnenmarkt hängt der Status Londons als wichtigster | |
| Finanzplatz Europas ab. Londons City trommelt daher für den Binnenmarkt – | |
| und sei es um den Preis, dass es keine Zuzugsbeschränkungen gibt. Aber was | |
| wäre dann der Sinn des Brexit? Kritiker warnen vor einem von | |
| Finanzinteressen getriebenen „EU-Verbleib durch die Hintertür“. | |
| ## „Change Britain“ | |
| Erst mit einer klaren Position dazu will die britische Regierung in die | |
| EU-Austrittsverhandlungen gehen. Aber von einer klaren Position ist die | |
| Regierung May weit entfernt. Binnenmarkt ja, Zuwanderung nein – diese | |
| Quadratur des Kreises ist in Europa nicht durchsetzbar, aber alles andere | |
| spaltet die Konservativen erneut, die sich doch gerade erst unter May | |
| wieder zusammengerauft haben. „Wir müssen diese Dinge in einer nüchternen | |
| und überlegten Weise durchdenken“, sagte die Premierministerin dazu im | |
| Unterhaus am 7. September. | |
| Das Problem ist nicht nur inhaltlich. Die neuen Ministerien für Außenhandel | |
| und für den Brexit existieren bis heute vor allem auf dem Papier. Sie haben | |
| weder eigene Gebäude noch E-Mail-Adressen, kaum Mitarbeiter – und die | |
| Versetzung von Beamten ist kompliziert. Solange diese beiden | |
| Schlüsselministerin nicht funktionsfähig sind, ist Großbritannien nicht | |
| verhandlungsfähig. | |
| So stößt nun Boris Johnson als lachender Dritter mit „Change Britain“ in | |
| die Lücke. Natürlich nährt das Vermutungen, dass er doch politische | |
| Ambitionen hegt und darauf lauert, dass May scheitert, so wie Cameron vor | |
| ihr. Nur in einem sind sich Johnson und May einig: In den Bereichen | |
| Verteidigung, Sicherheit und Terrorbekämpfung muss Großbritannien weiter | |
| eng mit der EU zusammenarbeiten. Das sind britische Kernkompetenzen. | |
| 20 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Brexit | |
| Großbritannien | |
| Theresa May | |
| Boris Johnson | |
| Ukip | |
| Ukip | |
| Großbritannien | |
| Theresa May | |
| Europäische Union | |
| Europäische Union | |
| Europa | |
| Europäische Union | |
| Europäische Union | |
| Ukip | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nach Streit in der britischen Ukip: EU-Abgeordneter schwer verletzt | |
| Der britische Ukip-Politiker Steven Woolfe liegt nach einem Streit im | |
| EU-Parlament in der Klinik. Es soll einen Kampf mit einem Parteikollegen | |
| gegeben haben. | |
| Ukip-Chefin tritt ab: Nur 18 Tage an der Spitze | |
| Diane James hat sich keine drei Wochen an der Spitze der britischen | |
| Rechtspopulisten gehalten. Sie gab an, ihr fehle die nötige Autorität und | |
| Unterstützung in der Partei. | |
| Kommentar Britische EU-Austrittspläne: Entdramatisierung des Brexits | |
| In der EU ist derzeit für kein einziges großes Problem eine Lösung in | |
| Sicht. Da wäre es gut, den Brexit zu akzeptieren und zu entpolitisieren. | |
| Parteitag der Konservativen in England: Mit dem Brexit zu „Globalbritannien“ | |
| Verhandlungen über den EU-Austritt ab März 2017, erklärt Premierministerin | |
| Theresa May auf dem konservativen Parteitag. | |
| Umfrage unter Europaabgeordneten: Was ist an der EU so toll? | |
| Was hat die EU an Gutem gebracht? Das haben wir die EU-Parlamentarier | |
| gefragt. Hier ihre Antworten – von Freizügigkeit bis Roaming-Abschaffung. | |
| Umfrage unter Europaabgeordneten: Was zeichnet die EU aus? | |
| Wir haben die Europaparlamentarier gefragt, was das Beste an der EU ist – | |
| und wie ihre Vision für die Zukunft aussieht. Hier alle 72 Antworten. | |
| Werber über öffentliches Bild der EU: „Es geht nicht ums Joghurtverkaufen“ | |
| Wie lässt sich das Image der EU aufpolieren? Der PR-Agent Klaus Dittko, | |
| einst Redenschreiber von Helmut Kohl, sagt: Neue Symbole reichen nicht. | |
| Debatte Europa: Holzschnitte und Blaupausen | |
| Gleichheit, Demokratie, Gewaltenteilung, Migration: Man kann, ja man sollte | |
| sich Europa auch als echte Republik vorstellen. | |
| EU-Gipfel in Bratislava: Europäische Union will den Neustart | |
| Wie kritisch ist die Situation der EU? Die 27 bleibenden Staaten der Union | |
| suchen in Bratislava eine gemeinsame Agenda. | |
| Diane James wird Ukip-Chefin: Neues Gesicht für britische Populisten | |
| Ukip bekommt eine weibliche Spitze. Nach ihrem Brexit-Erfolg wollen die | |
| Populisten nun Labour als stärkste Oppositionskraft ablösen. |