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# taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Die Los-Demokratie
> Ist die aleatorische Demokratie eine Alternative? Ginge es nach David Van
> Reybrouck, werden Volksvertreter künftig nach Zufallsprinzip ermittelt.
Bild: Haben ausgedient, wenn der Losentscheid kommt: Wahlkabinen
Die Zeit der utopischen Großerzählungen ist für immer vorbei, das wissen
längst auch jene, die sonst mit postmodernem Denken nichts anzufangen
wissen. Gerade darum lebt die Sehnsucht nach einer kleinen, gestutzten
Utopie fort.
Die bekannteste Mikroutopie ist wohl das bedingungslose Grundeinkommen.
Befreit vom Arbeitsethos, so die Annahme, könnten alle Menschen endlich
ihre brachliegende Kreativität ausleben, um „heute dies, morgen jenes zu
tun“ (Karl Marx).
Die andere prominente Utopie nach den Utopien ist die aleatorische
Demokratie. Der belgische Historiker und Schriftsteller David Van Reybrouck
stellt sie in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch „Gegen Wahlen.
Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ nochmals vor.
Die Idee, die nicht neu ist und schon länger diskutiert wird: Demokratie
dürfe nicht auf Wahlen reduziert werden, sondern solle durch Losverfahren
ergänzt oder ersetzt werden. Das Versprechen: Durch nach dem Zufallsprinzip
entstandene Bürgerversammlungen lasse sich die Krise der Demokratie
überwinden.
## Gegen „die da oben“
Ein Schöffengerichten vergleichbares Gremium aus ausgelosten Bürgerinnen
und Bürgern wäre laut Van Reybrouck „ein Gremium, für das Gemeinwohl und
Langfristigkeit noch immer Vorrang haben, ein Gremium von Bürgern, mit
denen man buchstäblich reden kann – nicht, weil sie besser wären als der
Rest, sondern weil die Umstände das Beste aus ihnen herausholen“.
Als Positivbeispiel nennt der Autor die Constitutional Convention in
Irland, die dort maßgeblich zur Entscheidung für die Homo-Ehe beigetragen
habe. Die Los-Demokratie wirkt also menschenverbessernd: So wie das
bedingungslose Grundeinkommen entfremdete zu schöpferischen Menschen macht,
macht sie aus ignoranten interessierte und engagierte Bürger.
Van Reybrouck weist wie schon vor einigen Jahren Bernand Manin in seinem
Buch „Kritik der repräsentativen Demokratie“ darauf hin, dass Wahlen
historisch kontingent sind und keineswegs eine notwendige Bedingung von
Demokratie. Die anderes behaupten, nennt er „Wahlfundamentalisten“.
Van Reybrouck wünscht sich, dass man die Bürger, ihre politischen
Leidenschaften, ernst nimmt. Diese Aufwertung des Polit-Amateurs ist erst
mal sympathisch. Allerdings versteckt sich dahinter die Sehnsucht nach
einer überparteilichen Vernunft, die populistische Züge trägt. Van
Reybroucks geht davon aus, dass jeder Politiker durch den Kampf um
Wählerstimmen professionell deformiert sei, das Gemeinwohl nicht mehr
erkennen könne.
## Die abgehobene Bubble
Er diagnostiziert das Ressentiment gegen „die da oben“ nicht nur, sondern
bekräftigt es, wenn er schreibt: „Es scheint, als habe die Politik sich in
ihrem Palast eingeschlossen und spähe ängstlich hinter den Vorhängen hervor
auf den Tumult auf der Straße.“
Mit Verlaub, es gibt sie nicht, „die Politik“, es gibt Politikerinnen und
Politiker, und die sind je unterschiedlich drauf. Und dass „die Politik“
eine abgedichtete und abgehobene Bubble sei, in der „die Bürger“ nicht mehr
gehört würden, ist eine pauschalisierende Ferndiagnose der strukturell
Verdrossenen. Politik gegen „die Politik“ sollte man besser der AfD
überlassen.
Es bleibt zudem ungeklärt, warum ausgeloste Bürgerinnen und Bürger
überhaupt mehr am Gemeinwohl interessiert sein sollten als gewählte
Bürgerinnen und Bürger. Werden rechte Wutbürger und
Verschwörungstheoretiker plötzlich zu Leuten, mit denen man reden kann, nur
weil sie – yes! – das große Los gezogen haben und in einem solchen
Zufallsgremium sitzen dürfen?
Fairerweise muss man sagen, dass Van Reybrouck einen sanften Übergang
vorschlägt, in dem Wahl- und Losverfahren kombiniert werden, er nennt es
„birepräsentativ“. In welcher Hybrid- und Zwischenform auch immer: Van
Reybroucks Lockerungsübungen überschätzen die Bedeutung des Prozeduralen
genauso wie die von ihm kritisierten „Wahlfundamentalisten“.
Wäre es nicht eher an der Zeit, die unvermeidliche Schwerfälligkeit der
repräsentativen Demokratie offensiv zu verteidigen, anstatt den Zufall als
große Lösung anzupreisen und die Zukunft der Demokratie selbigem zu
überlassen?
Der Autor ist Referent für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis
90/Die Grünen und Publizist.
13 Sep 2016
## AUTOREN
Aram Lintzel
## TAGS
Wahlen
Krise der Demokratie
Irland
Didier Eribon
Thomas de Maizière
Liebe
Schwerpunkt AfD
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