| # taz.de -- Kulturszene in Mecklenburg-Vorpommern: Aufmachen, nicht zumachen | |
| > Kulturelle Eigeninitiativen: Die Zivilgesellschaft in | |
| > Mecklenburg-Vorpommern ist aufgewacht. Eine Rundreise kurz vor der Wahl. | |
| Bild: Das Jugend Alternativ Zentrum JAZ in Rostock | |
| Über 20 Prozent prognostizierter Stimmenanteil für die AfD bei der | |
| Landtagswahl am Sonntag. Trotzdem: In Mecklenburg-Vorpommern hockt | |
| keineswegs hinter jedem Sanddornstrauch ein Neonazi und lauert | |
| Andersdenkenden auf. Seit der Schmach von Rostock-Lichtenhagen 1992 – | |
| damals fanden tagelang Krawalle von Rechten gegen eine | |
| Flüchtlingsunterkunft statt, ohne dass Staatsmacht und Bevölkerung dagegen | |
| eingeschritten sind – hat sich in Mecklenburg-Vorpommern etwas getan: Die | |
| Zivilgesellschaft ist aufgewacht und agiert alert gegen rechts. Das | |
| verbindet. Hier ist Gegenöffentlichkeit noch von gesellschaftlicher | |
| Bedeutung. Als letztes Jahr täglich Tausende Flüchtlinge auf dem Weg nach | |
| Skandinavien durch die Hansestadt kamen, war das Engagement für die | |
| Flüchtlingsinitiative „Rostock hilft“ groß. | |
| Orte, die quer zum Mainstream liegen und randständige Kultur anbieten, sind | |
| besonders wichtig. Aber auch ein kultureller Leuchtturm wie das | |
| „Peter-Weiss-Haus“, in dem sich auch das Literaturhaus in den Räumen eines | |
| ehemaligen Ausflugslokals im alternativen Viertel Kröpeliner-Tor-Vorstadt | |
| befindet. Neben Bibliothek, Veranstaltungshalle und Biergarten gibt es | |
| Ausstellungsräume im Turm des Gebäudes. | |
| Gerade wurde als Gemeinschaftsprojekt die Ausstellung „Der Mythos | |
| Eternauta“ über das Werk des argentinischen Comicautors Héctor Oesterheld | |
| eröffnet. „Die Innenstadt ist unser Einzugsgebiet, die Plattenbausiedlungen | |
| in den Außenbezirken erreichen wir bisher nur schwer“, sagt Ulrika Rinke, | |
| 36, Leiterin des Literaturhauses. Die Germanistin studierte bei Helmut | |
| Lethen und wurde beim dtv-Verlag als Lektorin ausgebildet. | |
| Problematisch etwa ist die Abwanderung junger, gut ausgebildeter Einwohner. | |
| Selbst in der 200.000 Einwohner zählenden Universitätsstadt Rostock stoßen | |
| Junge leicht an ihre Grenzen. Im Wahlkampf wird dies nicht thematisiert, | |
| sagt Rinke: „Ich glaube nicht, dass Nazis hier fruchtbareren Boden | |
| vorfinden als anderswo. Die, die zurückbleiben, scheinen leichter | |
| verführbar zu sein.“ Vielleicht hat Mecklenburg-Vorpommern auch kein allzu | |
| klares Bild von sich selbst. „Ein Ort zum Leben“ wirbt die SPD-geführte | |
| Landesregierung bedeutungsschwanger auf Schautafeln an der Autobahn. „Aus | |
| Liebe zu MV“ kuschelt Die Linke in einem Wahlkampfslogan. | |
| ## Gründerzentren gebraucht | |
| Auf dem Land werben NPD und AfD flächendeckend. „GEZ abschaffen“ und | |
| „Polizei stärken“ steht da zu lesen. Ralph Kirsten bleibt optimistisch. Der | |
| 60-Jährige ist so etwas wie das Gewissen der Rostocker Alternativkultur, | |
| einst hat er das Veranstaltungsschiff „MS Stubnitz“ vom Stapel gelassen, | |
| war beteiligt an der Gründung des Jugendzentrums MAU und half mit, das | |
| Programmkino Liwu aufzubauen. Nun will er sein Engagement in die Hände des | |
| Nachwuchses legen. Der den Grünen Nahestehende vermisst nicht nur bei der | |
| politischen Elite Zukunftsvisionen. „In Finnland, wo die Einwohnerdichte | |
| geringer ist als hier, wird auch nicht ständig über demografischen Wandel | |
| und Strukturschwäche gejammert.“ | |
| Kirsten fordert nicht nur, dass flächendeckend Breitband-Internet | |
| installiert wird. Es brauche Gründerzentren. Nach der Wende seien 172 | |
| Millionen Euro in die Werften gesteckt worden, Junge zu halten würde weit | |
| weniger kosten. Das Land habe durch eine rigide Sparpolitik inzwischen | |
| Rücklagen in Milliardenhöhe. „Ein Staat funktioniert aber nicht wie ein | |
| Privathaushalt. Er muss auch mal klotzen.“ Kirsten ist der Ansicht, dass | |
| Mobilität für die Landbevölkerung noch viel stärker gewährleistet sein | |
| muss. | |
| 80 Prozent aller Erstsemester in Rostock kennen Radio LOHRO, den | |
| alternativen Sender vor Ort. Wie mühsam seine Existenz ist, die von 150 | |
| Ehrenamtlern getragen wird, berichtet Geschäftsführerin Kristin Schröder. | |
| Fördergelder muss sie für Einzelprojekte beantragen. Dafür schießen | |
| Landesregierung, Medienanstalt und Hansestadt dann jeweils kleinere | |
| Geldsummen zu. „Die Verständigung mit der Politik klappt, wir haben es | |
| allerdings mit der Verwaltungsebene zu tun, weniger mit kulturell | |
| interessierten Menschen. Sie verstehen nicht immer, was wir leisten.“ Die | |
| knappen Mittel sind das eine, das andere ist die Polarisierung der | |
| Gesellschaft, die Schröder als stark empfindet. „Selbst in meinem näheren | |
| Umfeld gibt es Menschen, die von irrationalen Ängsten geprägt sind. Dabei | |
| haben sie noch nie Flüchtlinge persönlich getroffen.“ | |
| Nahe dem Rostocker Hauptbahnhof, im selbst verwalteten Zentrum JAZ, machten | |
| vergangenes Jahr täglich Abertausende auf dem Weg nach Skandinavien | |
| Station. Hier wurden sie verpflegt und bekamen Schlafplätze vermittelt. | |
| Weil die Behörden den Ansturm nicht mehr bewältigen konnten, hat man das | |
| JAZ um Hilfe gebeten. Glaubt man den Ausführungen von zweien aus dem Plenum | |
| namens „Alex“ und „Jens“, dann wurde das JAZ in der Flüchtlingskrise z… | |
| Technischen Hilfswerk. Dadurch sei das Verhältnis zur Polizei besser | |
| geworden, erzählt Jens. Stolz führen sie durch den 2015 eröffneten Neubau | |
| des JAZ. Ein Fort-artiges Gebäude, mit Garten, Fahrradwerkstatt und einem | |
| Konzertsaal, der lokalen Bands reserviert ist. Besucher spielen entspannt | |
| Tischtennis-Rundlauf. | |
| „Irgendwo muss hier die Blume aufgehen“, sagt Alex über die Atmosphäre zur | |
| Wende, in der die Anfänge der Alternativkultur in Rostock liegen. Diese | |
| Geschichte beginnt 1989 mit Hausbesetzungen und führt schließlich zu einem | |
| von der Stadt zur Verfügung gestellten Gebäude. Lichtenhagen sei der | |
| Weckruf gewesen, schon zuvor gab es Ärger mit Rechten. | |
| ## Keine Duldung von rechten Strukturen | |
| Von der „akzeptierenden rechten Jugendarbeit“, der Duldung von rechten | |
| Strukturen in Jugendhäusern, seien Sozialpädagogen zum Glück wieder | |
| abgerückt. Heute, glaubt Alex, helfe in der Arbeit gegen Nazis nicht nur | |
| einfach mehr Geld. Mit intensiver Kommunikation verbesserten sich auch die | |
| Chancen. „Da sein“ für Abgehängte und Menschen, die sich alleingelassen | |
| fühlen. Noch nicht umgesetzte Zusagen von der Stadt zur Übernahme von | |
| Mietschulden belasten das JAZ. Weil es 2015 wegen seines Engagements in der | |
| Flüchtlingskrise weniger Veranstaltungen durchführen konnte, nahm es | |
| weniger Geld ein. | |
| „Man kann’s nicht wegwischen, aber versuchen, es in Zukunft besser zu | |
| machen“, sagt auch Eckhard Kunsch über das Stigma Lichtenhagen. Kunsch, | |
| geboren 1937 in Chemnitz, hat mehr als 25 Jahre als evangelischer Pastor in | |
| Barth vor dem Darß gearbeitet. Er und seine Ehefrau Heide leben in einem | |
| Holzhaus in der Nähe. Als Achtjähriger hat er 1945 aus der Ferne das | |
| brennende Dresden erlebt. „Im Bunker redete immer noch jemand vom Endsieg.“ | |
| Nie wieder, hat er sich gesagt. | |
| In Barth leben 8.500 Menschen. 400 Flüchtlinge hat die Gemeinde | |
| aufgenommen, vor allem Syrer. Die benähmen sich anständig, sagt Kunsch. Der | |
| CDU-Wähler erzählt kopfschüttelnd, wie ein Ortsvorstand aus der Partei | |
| ausgetreten und zur AfD gewechselt sei, wegen Wulffs Ausspruch „Der Islam | |
| gehört zu Deutschland“. Frau Kunsch geht zum Telefon. Nach wenigen Minuten | |
| kehrt sie strahlend zurück. Für einen Besuch von Flüchtlingskindern im | |
| Rostocker Zoo hat sie mit einer Freundin ermäßigte Eintrittspreise | |
| ausgehandelt. | |
| Ob Darß oder Rügen, Mecklenburg-Vorpommern ist beliebtes Urlaubsziel. Das | |
| nutzt auch Knut Hartwich, der in Sellin auf Rügen eine Galerie im alten | |
| Feuerwehrhaus betreibt. Aktuell stellt er Werke von Norbert Bisky aus. | |
| Hartwich orientiert sich mehr nach Skandinavien als nach Berlin. Für den | |
| Finnen Robert Lucander richtete er eine Ausstellung aus. Vieles, was er | |
| über Kunst weiß, habe er von Dänemark und Schweden gelernt. „Aufmachen, | |
| nicht zumachen“, ist Hartwichs Devise. Das wünscht er sich auch von der | |
| Landespolitik, die Region müsse für ausländische Touristen attraktiver | |
| werden. Auch in Sellin sind Flüchtlinge untergebracht, das Verhältnis sei | |
| gut. „Wie viele von euch sind auf Rügen geboren, fragte ein zugereister | |
| Gewerbetreibender in der Einwohnerversammlung, eine tolle Ansage.“ Ängste | |
| um die Zukunft habe er schon. „Andere wählen deshalb AfD, ich nicht.“ | |
| In Rostock halten sich die Ängste in Grenzen. „Wenn die AfD viele Stimmen | |
| bekommt, überlegen die etablierten Parteien vielleicht endlich, ob ihre | |
| Politik noch Antworten auf das 21. Jahrhundert gibt“, sagt Ralph Kirsten, | |
| und Ulrika Rinke ist sich sicher, dass das demokratische Engagement weiter | |
| wachsen wird. | |
| 2 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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