# taz.de -- Rolf Verleger über Antisemitismus: „Das ist doch kein Terrorangr… | |
> Antisemit ist nicht, wer Israels Politik kritisiert, sagt Rolf Verleger, | |
> Psychologe aus Lübeck: Den Groll gegen die Juden befördert, wer jede | |
> Kritik unterbindet. | |
Bild: Aktivisten der Bokyott-Kamapgne gegen Israel protestieren zusammen mit j�… | |
taz: Herr Verleger, wann wurde Ihnen erstmals Antisemitismus vorgeworfen? | |
Rolf Verleger: Das erste Mal, an das ich mich erinnere, war durch meine | |
Großtante. | |
Weshalb? | |
Ich weiß nicht mehr, worum es genau ging. Aber irgendetwas Kritisches hatte | |
ich als – ich weiß nicht, vermutlich 18-Jähriger – über Israel gesagt. U… | |
das fand sie antisemitisch. | |
Ihre Kritik an Israel hat auch vor zehn Jahren zum Ausscheiden aus dem | |
Direktorium des Zentralrats der Juden geführt. Nicht ganz freiwillig … | |
Das Direktorium ist die Delegiertenkonferenz der Landesverbände. Ich war | |
damals Vorstand der Jüdischen Gemeinde Lübeck und auch Vorsitzender des | |
schleswig-holsteinischen Landesverbands, weil ich mich wesentlich für | |
dessen Aufbau und die Eigenständigkeit von der Hamburger Gemeinde engagiert | |
hatte. Deshalb war ich von 2005 bis 2009 Delegierter beim Zentralrat, hatte | |
dann aber schon 2006 einen offenen Brief zu Israels Gewaltpolitik | |
geschrieben. | |
Das war kein Problem? | |
Mit den meisten kam ich gut aus. Man hat da so einmal im Vierteljahr eine | |
Sitzung, und da waren manche unverhohlen freundlich, andere offen | |
feindselig. | |
Und dann? | |
Der Tropfen, der bei der schleswig-holsteinischen Basis das Fass zum | |
Überlaufen brachte, war, dass ich einen Vortrag beim Jahrestreffen der | |
Muslimischen Jugend Deutschlands hielt. Das war zu viel! „Bei den Muslimen: | |
Das ist Verrat!“ Da wurde ich abgewählt. | |
Sie kommen ja zum taz Salon über Antisemitismus nach Bremen, deshalb hatte | |
ich Ihnen vorab ein paar Artikel gemailt. Sie antworteten mir: Eher als ein | |
Antisemitismusproblem hätten wir ein Problem vor allem des Wissens darüber, | |
was Judentum ausmacht. Was meinen Sie damit? | |
Ich meine damit, dass Judentum sehr viel mehr ist als die Unterstützung | |
Israels. Der geistige Führer des liberalen deutschen Judentums, Rabbiner | |
Leo Baeck, hat das Judentum als die Religion der tätigen Moral | |
charakterisiert. Das Judentum sollte und wollte das Leuchtfeuer der Moral | |
unter den Völkern sein. Dazu ist es nach der Tradition auserwählt unter den | |
Völkern, um das Gesetz Gottes unter den Menschen zu verbreiten – und nicht | |
etwa, um ein schönes Land zu bekommen. | |
Also Israel … | |
Wenn man sieht, was Israel macht, ist man im Dilemma: Findet man das in | |
Ordnung? Soll man den Staat der Juden unter allen Umständen unterstützen – | |
oder soll man die moralische Botschaft des Judentums unterstützen? Was | |
davon ist antisemitisch? Ich finde es antisemitisch, das zu unterstützen, | |
was Israel macht. | |
Inwiefern? | |
Weil es sich gegen die zentrale Botschaft des Judentums richtet. | |
So pauschal? | |
Nein, was Israel macht, ist nicht per se zu verdammen. Das ist ein Punkt. | |
Die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen, die Israel begeht, | |
unhinterfragt hinzunehmen, finde ich aber in letzter Konsequenz | |
antisemitisch. | |
Zugleich behaupten Sie, der Vorwurf des Antisemitismus werde strategisch | |
genutzt: Er solle Kritik an Israel zum Schweigen bringen. | |
Ja, häufig. Von manchen. Aber das ist nicht dasselbe wie das, von dem ich | |
gerade geredet hatte. Da geht es ja darum: Wie definiert man heute sein | |
eigenes Judentum? Religiös im engeren Sinne ist ja keiner mehr, ich auch | |
nicht. | |
Und stattdessen? | |
Eine einfache Möglichkeit ist die Identifikation mit Israel: Israel ist der | |
Phönix aus der Asche nach der Vernichtung des Judentums. Also greift, wer | |
das angreift, das Judentum zentral an, in diesem Verständnis. Das finde ich | |
zwar platt, aber es ist nachvollziehbar – und es ist dann ein Angriff auf | |
den Kern. | |
Dass ein Vorwurf mitunter strategisch verwendet wird, heißt ja nicht, dass | |
er substanzlos wäre – es also kein Antisemitismusproblem in Deutschland | |
gäbe. | |
Sicher. Das ist aber nahezu völlig unabhängig von dem, wie man über Israel | |
denkt. Man kann positiv oder negativ über Israel denken – und schlecht oder | |
gut über Juden. | |
Dann müsste Antisemitismus losgelöst beobachtet werden vom | |
Israel-Palästina-Konflikt? | |
Es gibt ja Fremdenhass: Da muss man sich ja nicht lange umsehen, bei 20 | |
Prozent AfD-Wählern in Mecklenburg-Vorpommern. Ich weiß natürlich nicht, ob | |
die etwas gegen Juden haben, – ich denke, in der Mehrheit ja. | |
Dass es keine klare Korrelation zwischen Israelkritik und Antisemitismus | |
gibt, war ein bemerkenswertes Resultat der großen empirischen Studie von | |
Wilhelm Kempf, an der Sie mitgewirkt haben. | |
Mitgewirkt ist etwas zu hoch gegriffen. Ich war da im wissenschaftlichen | |
Beirat, ich habe den Verlauf der Studie verfolgt und alle halbe Jahre auf | |
Treffen diskutiert, aber sie nicht gemacht. Aber es stimmt: Es gibt keinen | |
linearen Zusammenhang zwischen der Haltung zu Israel und Antisemitismus. Im | |
Mittel haben die Freunde Israels sogar mehr Vorurteile gegen Juden als die | |
Unterstützer der palästinensischen Position. Und im Übrigen gibt es einen | |
klaren Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Vorurteilen gegen Juden mit dem | |
Hass auf andere Fremde – diesen Zusammenhang zeigt die Kempf-Studie sehr | |
deutlich. | |
Die tiefe Verankerung des Antisemitismus in der westlichen Kultur ist | |
allerdings ein Fakt. | |
Ja, wobei Juden historisch die einzige relevante Minderheit waren. Das | |
Problem heißt Hass gegen Minderheiten – nur waren die Juden halt immer da, | |
um sich an ihnen zu entladen. Beispielsweise habe ich mit Verblüffung | |
gelesen, dass 1885 beim Bau der Synagoge hier in Lübeck die Juden die | |
größte Minderheit waren: Es gab hier mehr Juden als Katholiken. Es gab | |
keinen anderen, gegen den sich solche Vorurteile hätten entladen können. | |
Die Gefahr einer einseitigen Stellungnahme im Israel-Palästina-Konflikt ist | |
aber, gerade solche überlieferten Feindbilder neu zu beleben. | |
Die Gefahr könnte man sehen. Aber es geht doch um das | |
Israel-Palästina-Problem. Es geht darum, dass Europa, dass Deutschland | |
gesagt hat: „Ihr Juden, haut ab. Nehmt dort den Leuten das Land weg. Das | |
ist in Ordnung.“ Das nenne ich: das Minderheitenproblem der Europäer auf | |
Kosten der Palästinenser entsorgen. Das als moralische Lösung zu vertreten, | |
ist völlig unglaubwürdig. Man macht sich so doch zum Idioten seiner | |
Vergangenheit. | |
Land wegnehmen ist bereits eine polemische Formulierung – die automatisch | |
bei einem Argumentationsmuster landet von der vermeintlichen Urbevölkerung | |
und ihren in mythischen Ursprüngen gründenden Rechten. | |
Wenn man vor Tatsachen die Augen verschließt, kann man ein dreimal heiliger | |
Judenfreund sein – man ist letztlich moralisch unglaubwürdig. | |
Welche Tatsachen genau? | |
Dass 700.000 Palästinenser damals im Wesentlichen vertrieben wurden. Da | |
kann man natürlich behaupten, die wären im Wesentlichen freiwillig gegangen | |
oder „ihre Muftis“ hätten sie dazu aufgefordert. Aber dann wurde ihr Land | |
enteignet. Wie wollen Sie das anders nennen als: weggenommen? Es gibt das | |
„Absentee Property Law“, das regelt diese Enteignung – wer zurückkam, war | |
ein Infiltrant und wurde erschossen. | |
Die Darstellung unterschlägt die vorhergehenden Landkäufe, die Spannungen | |
und die gewaltsamen arabischen Übergriffe während der osmanischen Periode. | |
Aber die Idee ist ja auch gar nicht, eine historische Debatte zu führen … | |
Aber darum geht’s ja. Nicht abstrakt darum, ob man antisemitisch ist oder | |
nicht. Es geht für mich um die Frage, wie beziehe ich Stellung zu | |
historischen Tatsachen. Und ich halte es für ungerechtfertigt, Diskussion | |
über Tatsachen – was trifft zu, was nicht – mit Antisemitismus überhaupt | |
nur in Zusammenhang zu bringen. Was die Leute für eine Motivation dahinter | |
noch haben, ist sicher auch eine relevante Frage. Aber man kann Diskussion | |
über Fakten nicht mit dem Verweis auf die vermeintliche Motivation aus dem | |
öffentlichen Diskurs wischen. | |
Es geht nicht darum, etwas aus dem öffentlichen Diskurs zu wischen. Aber | |
wenn die Meinung über den Staat Israel sich berauscht an ungeprüften | |
Erzählungen über dessen vermeintliche Gräueltaten: Artikuliert sie dann | |
nicht doch nur Ressentiments? | |
Wir können uns sicher stundenlang darüber streiten, was vermeintlich oder | |
real ist, was Übertreibung und was realistisch ist. Belassen wir es doch | |
einfach bei der Frage der „Nakba“… | |
… also der wörtlich als „Katastrophe“ bezeichneten Vertreibung der | |
arabischen Bevölkerung. | |
Oder bei der Frage ob es das „Absentee Property Law“ gibt – oder nicht, ja | |
oder nein? Ist denen das Land weggenommen worden, ja oder nein? – Ja! Das | |
ist das zugrunde liegende Problem. | |
Damit stellen Sie die Existenz Israels infrage? | |
Ja. Tue ich. Aber ich gebe darauf auch eine Antwort: Israel muss sich mit | |
diesem Problem auseinandersetzen und die Palästinenser für dieses Unrecht | |
um Verzeihung bitten. Man sollte zu einer einvernehmlichen Lösung kommen. | |
So greifen Sie allerdings diejenigen an, die ihre jüdische Identität durch | |
Identifikation mit dem Staat Israel herstellen. | |
Ja. Wenn jemand seine persönliche Identität in Nationalismus und | |
Chauvinismus findet, wird er dadurch angegriffen, klar. Das kam vorhin | |
vielleicht zu verständnisvoll rüber: Ich halte Nationalismus für eine | |
Identitätskrücke. Das war nie etwas Gutes. | |
Wird es durch die Infragestellung denn besser? | |
Das ist doch kein terroristischer Angriff, wenn man solche Gedanken hat! | |
Auch die USA sollten sich damit auseinandersetzen, dass durch ihre Existenz | |
die Indianer vernichtet worden sind. Es wäre schön, wenn die ihre nationale | |
Seele davon irgendwie reinigen könnten. Tun sie ja auch, langsam. Nachdem | |
die alle tot sind. So weit sollten wir es mit den Palästinensern nicht | |
kommen lassen. Und das zu fordern ist nicht Antisemitismus. | |
Aber daran anschlussfähig? | |
Dass man Israel aus menschenrechtlichen Erwägungen heraus kritisiert, ist | |
das anschlussfähig an rechte Positionen? Ich finde eigentlich: Nein. Oder | |
meistens nein. Oder von mir aus sogar vielfach ja, manchmal nein. | |
Muss uns die hohe Empfänglichkeit der Deutschen für antisemitische | |
Ressentiments also Sorge bereiten? | |
Ja. Genau das ist meine Sorge: Dass aufgrund der berechtigten Empörung über | |
das, was Israel macht, und was Israel international, insbesondere von | |
unserer westlichen Welt, einfach durchgelassen wird, die Verstöße gegen | |
sämtliche relevanten UN-Resolutionen: Ich fürchte, das genau befördert den | |
Groll gegen Juden. Man sieht ja durchaus, dass Rabbiner mit Kippa | |
verprügelt werden. Genau deshalb müssen wir schauen, dass der berechtigte | |
Unwillen über das, was in Israel passiert, seinen öffentlichen Ausdruck | |
findet – und nicht zu Antisemitismus wird. Nebenbei: Ich finde das Wort | |
sowieso blöd. | |
Das Wort Antisemitismus? | |
Ja. Dieses Wort wurde doch von geistigen Vorläufern der Nazis in die Welt | |
gesetzt, als sei es eine legitime Weltanschauung, dabei geht es doch nur um | |
hässliche Vorurteile und Diskriminierung. Außerdem wirkt der Begriff so, | |
als wäre Antisemitismus eine geschlossene Persönlichkeitseigenschaft, eine | |
innere Nussschale, die jemand hätte und die man freilegen muss. Aber das | |
trifft ja nicht zu. Es geht um Verhaltensmuster. Die Reduzierung von | |
Verhalten auf eine zu entlarvende Eigenschaft ist in anderen | |
Lebensbereichen zu Recht unüblich: Wenn ich den Abfall nicht runterbrächte | |
und meine Frau dann sagte: „Ich habe es schon immer geahnt, jetzt ist es | |
gewiss: Du bist ein Antifeminist.“ Das wäre nicht konstruktiv. | |
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10 Sep 2016 | |
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## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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