# taz.de -- Anja Bensiger-Stolze über Bildungspolitik: „Erfordernisse ignori… | |
> Anderswo ist die Bildungspolitik beweglicher, sagt Anja Bensinger-Stolze, | |
> Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) | |
Bild: Hat̕s auch nicht leicht: Grundschullehrerin in Hamburg | |
taz: Frau Bensinger-Stolze, wieder beginnt ein neues Schuljahr – macht | |
Schulpolitik noch Spaß? | |
Anja Bensinger-Stolze: In den Nachbarländern ist mehr Bewegung als in | |
Hamburg. In Niedersachsen wird zum neunjährigen Gymnasium zurückgekehrt: | |
Dort beteiligt die Politik alle Akteure und ist gesprächsbereit. Hier in | |
Hamburg sind die Haltungen sehr verfestigt. | |
Die Schulleiter der Stadtteilschulen haben vor den Sommerferien einen | |
„Aufschrei“ gewagt: Sie seien nicht nur hauptsächlich für Inklusion sonde… | |
auch für den Unterricht der Flüchtlinge zuständig – das könne nicht sein. | |
Auch das ist nach kurzer Debatte wieder verpufft. | |
Schulsenator Ties Rabe hat die Kollegen sogar noch öffentlich abgewatscht: | |
Sie sollten mal beginnen zu arbeiten. Die Bereitschaft, mit den Leuten vor | |
Ort zu reden und, auf sie zu hören, ist leider nicht da. | |
Sie erwähnten von Niedersachsen. Haben Sie Sympathie für die Rückkehr zum | |
Abitur nach Klasse 13? | |
Ich denke schon, dass die Schüler ganz schön unter Druck sind: Sie machen | |
nach zwölf Jahren Abitur und viele wissen nicht, was sie im Jahr danach | |
anfangen sollen. Das tut vielen nicht gut. Bildung braucht Zeit. Das | |
13-jährige Abitur bringt ihnen mehr Zeit, sich als Mensch zu entwickeln. | |
Die GEW priorisiert die flexible Oberstufe. Dort können Schüler zum | |
Beispiel ihr Auslandsjahr während der Schulzeit machen und entscheiden, ob | |
sie zwei, drei oder vier Jahre zum Abitur Zeit brauchen. Dies kommt den | |
individuellen Möglichkeiten entgegen. | |
Aber das Thema ist in Hamburg tot, seit im Herbst 2014 die Volksinitiative | |
pro G9 verlor. | |
Das stimmt. Aber die Unzufriedenheit ist immer noch da. Wir werden nicht | |
locker lassen und wollen die Debatte weiter führen und am 11. Oktober mit | |
einem Aktionstag zeigen, wo überall der Schuh drückt. | |
Wo drückt er denn genau? | |
Wir brauchen eine echte Inklusion. Auch sollten die Flüchtlingskinder auf | |
alle Schulen gleichmäßig verteilt werden. Zudem muss jede Schule die | |
Freiheit haben, ihr Profil so zu entwickeln, das es wie es für ihre | |
Schülerschaft passt. Dafür müsste jede Schule ihre Schüler behalten. Ein | |
Konstruktionsfehler des Zwei-Säulen-Modells ist, dass die Politik den | |
Gymnasien erlaubt, Kinder nach der 6. Klasse abzuschulen. Den Eltern wird | |
suggeriert: Ihr könnt es mit dem Gymnasium versuchen, aber wenn es nicht | |
klappt, fängt die Stadtteilschule die Kinder auf. | |
Durch diese „Rückläufer“ kommen mehr Kinder auf die Stadtteilschulen. | |
Aber Kinder, die zwei Jahre lang Misserfolge hatten. Um sie wieder | |
aufzubauen, bedarf es großer pädagogischer Anstrengung. Ein verlässliches, | |
dauerhaftes Lernumfeld fördert die individuelle Entwicklung der Kinder und | |
Jugendlichen. Ein großes Problem ist die Schulformempfehlung nach Klasse 4, | |
bei der die Kinder in gymnasiumsempfohlen und nicht-gymnasiumsempfohlen | |
eingeteilt werden. Nach der Grundschule sollte die Lernentwicklung und | |
nicht eine Schulform im Mittelpunkt stehen. | |
Diese Gymnasiumsempfehlung nach Klasse 4 ist doch sogar für Eltern ein | |
„Grundschulorden“. | |
Den braucht man nicht: Beide Schulformen führen ja zum Abitur. Viel | |
sinnvoller ist das Lernentwicklungsgespräch, in dem die Lehrkraft mit | |
Eltern und Kind über die künftige Schulwahl spricht und Wertschätzung | |
zeigen kann. | |
Wird sich die Aufnahme der Flüchtlingsschüler, auch die Inklusion, im | |
Alltag nicht irgendwie zurecht ruckeln – nach dem Motto: muss ja? | |
So einfach ist es nicht. Aus unsrer Sicht müssen jetzt die richtigen | |
Weichen gestellt werden, um das Recht auf Bildung auch für alle | |
benachteiligten und geflüchteten Kinder und Jugendlichen zu verwirklichen. | |
Hierfür haben wir in einem Hamburger Appell Gelingensbedingungen | |
formuliert. In diesem Bereich passiert einiges, aber in Sachen Inklusion | |
ist die Bereitschaft des Senators wesentlich geringer. Die Erfordernisse | |
für gutes Lernen, die Lehrkräfte und Leitungen formulieren, werden | |
ignoriert. Und auch die Schulleitungen stehen eben unter Druck von Oben und | |
werden vom Senator nicht gehört. | |
Ist der Schulbetrieb insgesamt hierarchischer geworden? | |
Ich sage undemokratischer. Da gab es ein richtiges Roll-back. Wir brauchen | |
wieder eine Schulpolitik, die alle Akteure ernst nimmt. | |
8 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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