# taz.de -- Eine Anwältin in Neukölln: Wer laut wird, fliegt raus | |
> Über 1.000 Mandanten betreut Marlies Suhrenkamp in Berlin-Neukölln. Sie | |
> weiß sich Respekt zu verschaffen und nimmt alles mit Humor. | |
Bild: Irgendwas zwischen Edith Piaf und eins sechzig: die Anwältin Marlies Suh… | |
Berlin taz | Die Anwältin Marlies Suhrenkamp landete im Jahre 1992 im | |
Berliner Bezirk Neukölln wie eine lange aufgehaltene Brieftaube im | |
heimatlichen Schlag. Ihre Eltern waren im Jahre 1961 mit der damals | |
Zehnjährigen von hier nach Hamburg gezogen. Als Einzelkind fand Marlies das | |
gar „nicht lustig“. Sie hatte alle Freunde verloren, auch den Nachbarjungen | |
Thomas, mit dem sie stets Hand in Hand in die Schule gewandert war. | |
Heute wohnt Marlies Suhrenkamp, einmal verwitwet, einmal geschieden, wieder | |
in der Nähe ihres einstigen Elternhauses. Als Fußballfan hat sie auf ihrem | |
Balkon dauerhaft eine Deutschlandfahne verankert. Der Weg in ihre Kanzlei | |
führt auf die andere Seite des Hermannplatzes, wo im Schnäppchenmarkt noch | |
ein paar schwarz-rot-goldene Fahnen übrig sind, die Hermannstraße hinauf in | |
eine mit jedem Schritt muslimischer werdende Welt. | |
Hier, in der Hermannstraße 11, eröffnete sie im Jahr 2003 ihr Büro, allein | |
mit einem Faxgerät und einem geerbten Aktenschrank. Doch sie hatte einen | |
guten Nachbarn: den türkischen Inhaber eines KfZ-Sachverständigenbüros. Er | |
hatte sie auf das leer stehende Geschäftslokal aufmerksam gemacht und auf | |
eine Marktlücke im Kiez: Wem das Auto demoliert wurde, der braucht erst mal | |
eine Expertise – und danach meist einen Anwalt. Heute beschäftigt | |
Suhrenkamp drei AnwaltskollegInnen und fünf Rechtsanwaltfachangestellte. | |
Sie hat keine Schwierigkeiten, Aufgaben zu delegieren: „Ich habe im Leben | |
schon sehr viel mehr für sehr viel weniger Geld gearbeitet.“ | |
Für alle in der Kanzlei gilt gleitende Arbeitszeit, sie selbst beginnt | |
heute um zehn. Neben einem schweren Metallaschenbecher auf ihrem | |
Schreibtisch – sie ist bekennende Raucherin – materialisieren sich die | |
Deutschlandfarben erneut: in einem Wimpel, dazu – bei | |
Fußballgroßereignissen – auf Fingernägeln und Armband der Chefin. | |
## Hier gilt „Vattern fährt“ | |
„Mit Nationalismus hat das nichts zu tun“, versichert sie. Nicht zuletzt | |
der vielen Ausländer wegen fühlt sie sich in Neukölln „absolut zu Hause“. | |
80 Prozent ihrer Mandanten sind Araber und Türken, davon wiederum 85 | |
Prozent Männer. Hier gilt noch „Vattern fährt“, sagt sie und fügt hinzu: | |
„Also von mir aus können die Leute kariert aussehen, und sie dürfen denken, | |
was sie wollen – nur benehmen müssen sie sich. Wer laut wird, fliegt raus.“ | |
Wenn es mit der sprachlichen Verständigung hapert, helfen ihr türkischer | |
Nachbar und dessen Angestellte. | |
Und was unterscheidet muslimische Mandanten von deutschen? Sie überlegt: | |
„Mit wenigen Ausnahmen fühlen sie sich nie schuldig. Wenn man beweist: Guck | |
mal, vor dem Schild da hättest du gar nicht stehen dürfen! Dann kommt in | |
der Regel eine Antwort wie: Na, soll ich mein Auto denn mit raufnehmen?“ | |
In ihrem früheren Leben war Marlies Suhrenkamp Krankenschwester für | |
Anästhesie und Intensivmedizin. Manchmal fragt sie sich: „Habe ich ein | |
Helfersyndrom?“ Wer sie aber kennt, weiß mit Sicherheit eines: Das | |
wichtigste Merkmal dieser Frau ist ihr Erzähltalent. Mit jeder ihrer | |
Antworten schildert sie eine Theaterszene, und das Leben drinnen wie | |
draußen hält genug Stoff für sie bereit. | |
Ein Schlüsselerlebnis hatte sie kurz nach ihrer Praxisgründung: „Da tritt | |
ein möglicher Mandant ein, ich streckte ihm freundlich die Hand entgegen, | |
und er erklärt: Ich gebe ihnen nicht die Hand, sie sind – sagt er | |
abschätzig – eine Frau!“ Er flog erst mal raus, kam aber fünf Minuten | |
später wieder und erklärte: „Das hab ich doch nicht so gemeint.“ Bloß la… | |
ihm sein Glaube keine Wahl. | |
## Vor allem Verkehrsdelikte | |
Von Neuköllns Negativimage hat sich die Anwältin nie beeindrucken lassen. | |
Bei heute 328.000 Einwohnern wurden zuletzt 41,1 Prozent Personen mit | |
Migrationshintergrund gezählt. Dies schafft – zusammen mit der sozial | |
schwachen Situation vieler Deutscher – Probleme im Bildungssektor. Die | |
Arbeitslosenquote ist mit 17,1 Prozent die höchste in Berlin. Mit den | |
berühmten Neuköllner Bandenkriegen hat Suhrenkamp allerdings kaum zu tun | |
gehabt; nur einmal litt das Auto eines Mandanten, weil es bei einer der | |
Verfolgungsjagden im Weg stand. Suhrenkamps Geschäft sind Straf- und | |
Verkehrsrecht, im Verhältnis 20 zu 80. | |
Manchmal rempeln Jugendliche auf der Straße die Anwältin an. „Wenn so einer | |
zischt: ‚Ich fick deine Mutter!‘, antworte ich: ‚Okay, ich sag ihr | |
Bescheid.‘ Diese Kids sind ja nicht so geboren.“ In Hamburg war Suhrenkamp | |
selbst ein Schlüsselkind und tat, was sie wollte. Mit 16 erklärte sie: | |
„Mein Leben gehört mir!“, und ging vom Gymnasium ab. | |
Aber nach vierzehn Jahren Dienst auf der Intensivstation in der | |
Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf sehnte sie sich doch nach einem Abitur | |
und meldete sich bei der Abendschule an. Drei Jahre später nahm Suhrenkamp | |
das Jurastudium auf. | |
## Von der Treuhand zur eigenen Kanzlei | |
Sofort nach dem Zweiten Staatsexamen, 1992, zog sie zurück nach Berlin. | |
Damals suchte die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft JuristInnen zur | |
Verwertung einstiger DDR-Immobilien. Ein Jahrzehnt später eröffnete sie | |
ihre Kanzlei. Heute ist Suhrenkamp vor allem auf ihren großen Konferenzraum | |
stolz. Mit gelben Tapeten und cremefarbenen Ledersesseln brachte sie hier | |
Sonne ins Souterrain. Mit geradem, aber nicht steifem Rücken gleitet sie | |
durch ihre Hallen, bei einer Körpergröße zwischen Edith Piaf und eins | |
sechzig machen sich da ihre hugenottischen Vorfahrinnen bemerkbar. Hier | |
betreut sie insgesamt 1.400 Mandanten. „Die kommen immer wieder“, lacht | |
sie. „Weil ich ihnen ehrlich erzähle, was sie finanziell erwartet und wie | |
lange das dauern kann.“ | |
Dass auch Suhrenkamp bisweilen unter Stress leidet, dafür macht sie ihre | |
Geschäftspost verantwortlich – die äußerst unregelmäßig eintrudelt. Ein | |
Brief an das einzige für Verkehrssachen zuständige Amtsgericht in Berlin, | |
nahe dem Alexanderplatz, kam einmal sogar mit dem Vermerk zurück: Empfänger | |
unbekannt verzogen. | |
Das Gebäude aus der Gründerzeit steht noch immer und umfasst einen ganzen | |
Häuserblock. In unregelmäßigen Abständen fährt die Anwältin mit der U-Bahn | |
hierher, verschwindet im ornamentreichen Tor und vertritt ihre Mandanten | |
vor den RichterInnen. Erst nach bis zu zwei Jahren gibt es einen | |
Verkündigungstermin. Und der sieht dann so aus, erzählt Suhrenkamp: | |
„Da steht der Richter in der Regel allein da. Er erhebt sich wirklich und | |
sagt vor dem leeren Saal in dem angeblich unbekannt verzogenen Gebäude: Im | |
Namen des Volkes! – Das muss der so machen. Und dann krieg ich das Urteil | |
schriftlich zugestellt.“ | |
## Ein großes Erzähltalent | |
Marlies Suhrenkamp erzählt nicht nur bühnenreif, sie ist außerdem privat | |
die Zweite Vorsitzende des Theaters im Keller, einer Travestiebühne, die | |
ihr Hauseigentümer und dessen Ehemann betreiben. Außerdem ist sie seit 1972 | |
Mitglied der SPD. Und was hält sie von Neuköllns legendärem | |
SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky, der bis 2015 den Bezirk regierte? | |
Buschkowsky eckte mit vielen Äußerungen an. Als der türkische | |
Ministerpräsident Erdoğan die in Deutschland lebenden Türken aufforderte, | |
Goethe zu lesen, kommentierte Buschkowsky: „Bevor sich unsere Eleven an | |
Kant und Hegel machen, beginnen wir erst einmal mit der Sprache, dem | |
Kindergarten und dem Einmaleins.“ | |
Auch Suhrenkamp konstatiert bei ihren türkischen Nachbarn „katastrophale | |
Deutschkenntnisse“ und sagt: „Wenn Herr Erdoğan sich immer wieder über | |
deutsche Menschen äußern kann, so kann das der Bezirksbürgermeister von | |
Neukölln auch über die türkischen Menschen, mit denen er hier zu tun hat.“ | |
Sie meint: „Deutschland hat den Integrationszug in den 70er und 80er Jahren | |
abfahren lassen.“ Gerade die türkischen Gastarbeiter habe man nur als | |
billige Arbeitskräfte benutzt, ohne sich um sie zu kümmern. | |
## Gehäkeltes Trallala | |
Ein Anzeichen für die Entwicklung zweier Parallelgesellschaften sieht sie | |
auch in der zunehmenden Verschleierung muslimischer Frauen. In Neukölln | |
täglich zu beobachten: „Ich war in der Bank am Kottbusser Damm“, erzählt | |
sie. „Die Automaten stehen da seitlich zur Glastür und sind zur Straße mit | |
einer Glasfront abgeschirmt. Neben mir steht eine in’ner richtigen Burka | |
mit nur so ’nem gehäkelten Trallala vor den Augen. Ich wusste, was kommt: | |
Die nimmt ihre Scheine, dreht sich um und rennt natürlich voll gegen diese | |
Glaswand. Sie dachte, da geht’s raus, weil sie die seitliche Tür gar nicht | |
mehr im Blickwinkel hatte. Nächstes Mal ist da keine Glaswand, sondern es | |
kommt was gefahren.“ | |
Viele Dinge regelt die Anwältin per Schriftverkehr oder Telefonate. Nur um | |
besonders komplizierte Sachverhalte erzählerisch zu veranschaulichen, lädt | |
sie Leute zu sich. Andere kommen von selbst. Manche davon vergisst sie nie: | |
„Da kam ein Typ hier rein, in einem weißen nachthemdähnlichen Gewand, | |
Pluderhosen, Jesuslatschen und mit’nem Stab in der Hand. Ich Blödmännin | |
hätte ja den Mund halten sollen. Stattdessen sagte ich: Sie sehn ja | |
interessant aus! Wie sich herausstellte, wollte er die Wanderungen von | |
Mohammed nachvollziehen. Und ich meinte noch: Oh, ich wusste gar nicht, | |
dass Mohammed auch durch Berlin gekommen ist. Er antwortete: Ich fang eben | |
da an, wo ich lebe. | |
Dieser Mann war nicht gekränkt, sondern ließ sich schließlich von ihr | |
vertreten. Genauso wie jener, der ihr immer noch nicht die Hand geben will, | |
aber dies jetzt diplomatisch vermittelt. Er ist ihr Mandant bis heute. | |
10 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
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