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# taz.de -- Kulturgeschichte des „Büroversehens“: Die perfekte Entschuldig…
> Eine Einschätzung zur Türkei, ohne Außenministerium? Kein Fehler – ein
> „Büroversehen“. Über ein Wieselwort, seine Funktion und Verwendung.
Bild: Wo war doch gleich die strenggeheime Verschlussakte? In der Kantine? Oops…
Jeder zweite Berufstätige in Deutschland arbeitet am Schreibtisch, sagt
eine Studie. Früher bezeichnete man den auch im Deutschen gern als
„Bureau“, weil es schick klang und man sich abheben wollte vom Pöbel, der
keinen hatte. Heute ist aus dem Möbel ein Lebensraum geworden, aus Bernd
Stromberg eine Nationalallegorie. Arztpraxen, Heizungsfirmen, Hochschulen:
Irgendwie ist alles Büro. Das Büro ist der Ort, an dem wir alle uns früher
oder später wiederfinden, auf der einen oder der anderen Seite des
Schreibtischs.
Und: Fehler macht jeder. Sie einzugestehen ist also selbstverständlich.
Einerseits. Andererseits: „Fehler“ ist kein schönes Wort. Und die Deutschen
hadern sehr, mit Schuldeingeständnissen und mit klaren Worten. Ein viel
besseres Wort ist also „Versehen“. Es ist nur einen winzigen Zungenschlag
entfernt von seinem Ursprung – dem Vergehen –, schafft aber eine angenehme
Distanz. Sie kennen das.
Wenn Büros also die Orte sind, an denen sich so viele Menschen in
Deutschland aufhalten, passieren dort Versehen. Was ist also logischerweise
das Signalwort für die bundesrepublikanische Durchschnittsseele? Klar: Büro
+ Versehen = Büroversehen. Deshalb hätte folgende Rechnung eigentlich
aufgehen müssen: Das Bundesinnenministerium erschüttert nicht nur die
deutsch-türkischen Beziehungen, sondern auch das Koalitionsklima, indem
eine vertrauliche Stellungnahme zur Türkei als Terrorpaten nicht da landet,
wo sie zunächst hingehört – im Auswärtigen Amt –, sondern in der Presse.
Dumm gelaufen, alle stinksauer. Was also tun? Zugeben, dass man einfach
keine Lust mehr hatte auf die Diplomaten-Hippies, die immer alles
schönreden wollen, fiel schon mal aus. Auf die Schnelle schoben die
Sprecher die versäumte Abstimmung zwischen Innen- und Außenministerium
darum einfach auf das „Büroversehen“.
## Jeder ist Opfer – und Täter
Das ist zunächst naheliegend, weil keineswegs eine neue Erfindung. In
Politik und Verwaltung eh nicht – aber auch darüber hinaus: Die
Anwaltskanzlei verschusselt eine Rechnung, die Zulassungsstelle kommt nicht
in die Gänge mit dem neuen Nummernschild – man könnte kühn schätzen: Jeder
Deutsche wird mindestens einmal im Leben Opfer eines Büroversehens. Und hat
vermutlich auch selbst schon eines begangen – und darum vollstes
Verständnis für so was. Büro + Versehen ist folglich die perfekte
Entschuldigungsformel. Für alles.
Und trotzdem gab es mit [1][#Bueroversehen] viel Häme für die
Stellungnahme des Innenministeriums. Das lag nicht nur an der
offensichtlichen Unaufrichtigkeit, sondern wohl daran, dass Reue ähnlich
strukturiert ist wie Satire: Auf keinen Fall darf sie von oben nach unten
treten. Es ist doch so: Jeder weiß, dass ein Staatssekretär nicht in einem
Großraumbüro sitzt.
Er hat ein Vorzimmer, darin sitzt ein/e persönliche/r Referent/in, an
dem/der eigentlich nichts vorbeiflutscht. Im Fall eines Ministeriums
funktioniert also die Rechtfertigung „Büroversehen“ nicht als Verständnis
garantierende Reduktion einer schweren Schusseligkeit auf das
Alltagsphänomen des Versehens, wie es vermutlich gedacht war. Sondern als
Code für: Ich kann nichts dafür, die Sekretärin hat’s vergeigt.
Da ist er wieder, der Mann hinter dem bureau, der Pöbel davor. Der
Shitstorm, den das Innenministerium bekam, ist deshalb wohlverdient.
Offensichtliche Dämlichkeit plus anbiedernde Bürgernähe bei gleichzeitigem
Angestellten-Bashing – das funktioniert einfach nicht. Stattdessen könnte
das BMI bei der nächsten fälligen Rechtfertigung doch einfach mal was
eindeutschen. Zum Beispiel das niedliche französische Wort peccadille: une
faute légère, ein „kleines, geringfügiges Versehen“.
## Schöne „Büroversehen“-Beispiele:
Die verlorene Klageschrift. Im Mai 2013 stoppte der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR) eine Klage gegen die deutsche Hundesteuer, ohne
zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Aus der hunderte Seiten dicken
Beschwerdeakte waren ausgerechnet die drei entscheidenden Dokumente auf
rätselhafte Weise verschwunden. Der EGMR hatte in einem Brief an den
Beschwerdeinitiator Elmar Vitt ein „nicht mehr nachvollziehbares
Büroversehen“ als Grund angegeben. Vitt hatte im Juli 2012 die Klage in
Straßburg eingereicht: Die deutsche Hundesteuer sei demnach willkürlich und
ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, da andere Tierarten
steuerfrei blieben. Das EGMR hatte es abgelehnt, die 2012 abgelaufene Frist
zu verlängern, um die Dokumente erneut einzureichen.
Nicht versendete Erklärung. Im Februar 2014 sorgte eine Pressemitteilung,
die ihren Bestimmungsort nie erreichte, für Ärger in der schwarz-roten
Koalition. Anders als von SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann dargestellt,
war die umstrittene Erklärung zum Fall Edathy vor Veröffentlichung nicht an
das Büro von Unionsfraktionschef Volker Kauder gegangen. In der Erklärung
hatte Oppermann öffentlich gemacht, dass SPD-Chef Gabriel im Oktober 2013
vom damaligen Innenminister Friedrich vertraulich informiert worden war,
dass Sebastian Edathys Name in den Ermittlungen aufgetaucht ist. Friedrich
trat zurück. Oppermann räumte ein, die Erklärung sei zwar angekündigt,
„durch ein Büroversehen“ aber nicht versandt worden. Die CDU warf dem
SPDler vor, Friedrich um den Ministerposten gebracht zu haben.
Unter den Teppich gekehrt. Jahrzehntelang schmückt sich das Hamburger Hotel
Vier Jahreszeiten mit einem wertvollen Wandteppich. Das Kunstwerk
allerdings stammt aus dem Besitz der jüdischen Familie von Emma Budge und
war nach deren Tod 1937 von den Nazis versteigert worden – so gelangte es
in das Vier Jahreszeiten. Der Anwalt eines Teils der Budge-Erben, Lothar
Fremy, schrieb 2010 an das Hotel, um die Rückgabe zu erwirken. Dort
bestätigte man lediglich den Eingang und bat um Bedenkzeit. Dann geschah
ein Jahr lang nichts. Erst nachdem der NDR beim Vier Jahreszeiten
nachfragte, erhielt Fremy eine Antwort: Die Zeitverzögerung erklärte das
Hotel durch ein „Büroversehen“. Aus dem Schreiben geht hervor, dass das
Hotel offenbar davon ausgeht, rechtmäßiger Eigentümer des Teppichs zu sein.
Das falsche Gesetz. Im November 2008 verabschiedete der brandenburgische
Landtag mit den Stimmen von SPD und CDU gegen die Links-Opposition ein
neues Hochschulgesetz – das allerdings hatte in einer falschen,
fehlerhaften Fassung vorgelegen. Es enthielt einen früher einmal
diskutierten, aber im Ausschussverfahren längst getilgten Passus, wonach
sich Studentenwerke auch wirtschaftlich betätigen und an Unternehmen
beteiligen dürfen. „Der Grund ist ein ärgerliches Büroversehen in der
Landtagsverwaltung“, bestätigte damals die Landtagssprecherin Katrin
Rautenberg. Da es in dieser Version formal angreifbar gewesen wäre, musste
das erlassene Hochschulgesetz bei der nächsten Landtagssitzung im
darauffolgenden Monat ein weiteres Mal verabschiedet werden.
18 Aug 2016
## LINKS
[1] https://twitter.com/search?q=%23Bueroversehen
## AUTOREN
Johanna Roth
## TAGS
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Schwerpunkt Türkei
Sebastian Edathy
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