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# taz.de -- Zurück an die Nordsee: Wo es am schönsten ist
> Jeder wird irgendwo geboren. Doch viele halten es da nicht aus und
> fliehen in die großen Städte. Unser Autor ging nach Berlin und blickt
> zurück.
Bild: „Wenn man überall gewesen ist, sollte man vielleicht dahin zurückkehr…
Berlin/Cuxhaven taz | Anfang Mai hatte ich eine Lesung in Cuxhaven.
„Scooterman – schwer behindert, schwer zu stoppen“ heißt mein aktuelles
Buch. Kein großer Erfolg. Aber Grund genug, meinen Agenten so lange zu
nerven, bis er mir knapp zwanzig Lesungen in Berlin, Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern organisierte. Um die letzte Reise hatte ich mit
Zähnen und Klauen gekämpft. Denn die führte mich zum Abschluss an die
Nordsee. Nach Cuxhaven, wo ich vor 50 Jahren geboren wurde.
Der Abend war gut gelaufen. Die Bibliothek in der Innenstadt voll. Meine
kleine, häufig zerstrittene, selten einige Familie war fast vollzählig
erschienen. Vater, Mutter, Schwester, zwei Nichten, ein Neffe, eine Tante.
Nun stand ich auf der Dachterrasse des Hotels, in dem ich die nächsten zwei
Nächte verbringen würde. Meine Schwester, die hier Empfangschefin ist,
hatte mir den Schlüssel geborgt. Jens, ein alter Freund, war noch
mitgekommen. Und die Veranstalterin des Abends. Wenige Dutzend Meter unter
uns mündete die Elbe in die Nordsee, direkt neben der Kugelbake. Ein altes,
hölzernes Seezeichen, das sich zum Wahrzeichen der Stadt hochgedient hat.
Vor einer Stunde war es dunkel geworden, aber die Dämmerung hatte ihren
Kampf mit der Nacht noch nicht ganz aufgegeben.
„Wenn man überall gewesen ist“, war plötzlich die Stimme der Veranstalter…
zu hören, „dann sollte man vielleicht dahin zurückkehren, wo es am
schönsten ist.“
Meinte die Frau etwa Cuxhaven? Hatte sie mir in den letzten zwei Stunden
nicht zugehört? Eine Art professionelle Arroganz machte sich ganz schön
breit in mir. Seit 2003 leide ich an Multipler Sklerose. Jedes Jahr wird
das Laufen ein bisschen schwerer. Nach drei ineinander übergehenden Schüben
im vorvergangenen Jahr bin ich auf einen Elektroscooter angewiesen. Von
meinen Reisen hatte mich die Krankheit nicht abbringen können. Davon
erzählte ich heute Abend. Über Singapur, Australien und Neuseeland.
Im Gespräch mit dem Publikum hatte ich dann noch ein bisschen geprahlt. Mit
einem spontanen Picknick im Death Valley/Nevada zum Beispiel. Bei 52 Grad
Celsius. Oder einer Schneescooterfahrt durch den kanadischen Winter. Einer
Nacht in der frisch eröffneten Tibet-Bahn von Lhasa nach Peking. Oder von
einem Spiel der ersten Rugby-Liga in Südafrika. Zum Schluss hatte ich mich
noch fotografieren lassen, und den Cuxhavener Nachrichten und der
Niederelbe Zeitung ein paar Fragen beantwortet.
Jetzt stand ich ein paar Dutzend Meter über der Elbmündung und spürte, dass
routinierte Arroganz mich nicht weiterbringen würde. Nicht heute Abend.
Nicht nach der Lesung in meiner Geburtsstadt am Ende der Welt. In die ich
immer wieder zurückkehre, obwohl ich sie schon lange verlassen habe. In der
ich es nie länger als drei Tage aushalte, obwohl ich peinlich darauf achte,
dass sie bei jedem neuen Buch auf der Lesungsliste steht.
Haben Sie schon einmal versucht, telefonisch die Behindertenbetreuung für
eine Bahnreise von Berlin nach Cuxhaven zu organisieren? Egal, was im
Internet steht, und egal, was Ihnen unterbezahlte Menschen in Callcentern
erzählen – ohne ein bis zwei Nervenzusammenbrüche werden Sie es nicht
schaffen.
„Ihr seht, Cuxhaven macht mich immer noch müde“, gähnte ich laut in die
kleine Runde, um einen Grund zu haben, mich ins Bett zu verabschieden.
Besonders gut geschlafen habe ich allerdings nicht.
Jeder wird irgendwann irgendwo geboren. Bei mir geschah das am 18. 1. 1966
in Cuxhaven, Stadtteil Sahlenburg. Weniger als einen Kilometer vom Wasser
entfernt. Die Stadt ist ein sogenanntes „Mittelzentrum“, wofür im
strukturschwachen Niedersachsen 48.000 Einwohner ausreichen. Flächenmäßig
ist Cuxhaven sogar eine der drei größten Städte des Landes nach Hannover.
Was aber in erster Linie daran liegt, dass in den Jahrzehnten nach dem
zweiten Weltkrieg skrupellos eingemeindet wurde.
Dass ich hier nicht hingehörte, merkte ich schon in der Pubertät. Die
anderen Altersgenossen begannen die Mädchen zu beeindrucken, indem sie
Handball oder Fußball spielten, jeden Samstagabend in den Großraumdiscos
der Umgebung feierten, oder sich in Drogenexperimente mit Apfelkorn und
Bier stürzten.
Ich saß am liebsten zu Hause und las. Als die anderen sich Gitarren kauften
und zusammen spielten, gründete ich meine erste Kabarettgruppe. Die anderen
lungerten den ganzen Sommer am Strand zwischen den Strandkörben herum und
folgten dem alten Lehrspruch ihrer Väter: „Zuerst den Korb knacken, und
dann im Korb das Mädchen knacken.“ Ich hatte eine Sonnenallergie.
Die Mädchen waren meistens Kurzurlauberinnen aus dem Ruhrgebiet, die von
ihren Eltern für die Reise in den Norden extra Ölzeug bekommen hatten. So
was war nichts für jemanden, der im abgedunkelten Jugendzimmer Solschenizyn
las. Dafür bekam ich Antje, eine schöne Lehrerstochter.
Vier Jahre bevor ich Cuxhaven verließ, war ich eigentlich schon weg. 1985
packte ich einen Koffer. Ein paar Stunden später kam ich am Bahnhof Zoo in
Berlin an. Meine erste Unterkunft war ein Zimmer in Schlachtensee,
vermietet von einer halbblinden 90-Jährigen. Natürlich wollte ich
Schriftsteller werden. Nach einem halben Jahr hatte Antje mich verlassen,
und ich begann mit dem Trinken. Kann sich das noch jemand unter 50
vorstellen? Eine Fernbeziehung ohne Handy und Skype aufrecht zu erhalten?
Helmut Kohl und die Mauer, beide noch da.
Ein paar Jahrzehnte später kann ich sagen: Ich bin tatsächlich
Schriftsteller geworden. Habe einige Bücher geschrieben, und immer wieder
Reisereportagen. Es gab ein paar Stellen, an denen ich tatsächlich das
Gefühl hatte, im Paradies zu sein. Für ein paar Minuten. Oder auch Stunden.
Aber vielleicht hatte die Veranstalterin recht, als sie meinte, dass man
irgendwann dahin zurückkehren soll, wo es am schönsten ist.
Im Moment bin ich noch zu jung. 2035, mit siebzig, lasse ich durchaus mit
mir reden.
Um diesen Artikel mit den Worten meines Vaters Rudi zu schließen: „Du
kannst den Mann aus dem Norden holen. Aber nie den Norden aus dem Mann.“
4 Aug 2016
## AUTOREN
Knud Kohr
## TAGS
Cuxhaven
Nordsee
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Berlin
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