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# taz.de -- EU-Flüchtlingspolitik und Libyen: Das Chaos hinter der Fassade
> Das Transitland macht gute Geschäfte mit Flüchtlingen. Für die Politik
> der EU wird die Partnerschaft mit dem zerfallenen Staat immer riskanter.
Bild: Offen ist, wie es weiter geht: Flüchtlingslager in Bengasi
Es geht, wie immer, ums Geld: 100 Millionen Euro wollte der Niger, um
Flüchtlinge aufzuhalten. Jetzt hat die Europäische Union immerhin 25
Millionen Euro für die Ausbildung von nigrischen Sicherheitskräften
bewilligt. Eine Finanzspritze, die genauso hoch ist wie die deutsche
Entwicklungshilfe für das afrikanische Land im Jahr 2013. Dabei ist der
Niger nur eines der Transitländer. Daneben gibt es noch Staaten wie den
Tschad, wie Ägypten, wie Algerien für all jene Flüchtlinge, die über Libyen
nach Europa wollen.
Am Parameter „Geld“ lassen sich die Prioritäten der EU und Deutschlands in
den südlichen Mittelmeerländer ablesen. Es geht um Flüchtlinge – aber nur
im Sinne der Frage, wie verhindert werden kann, dass sie nach Europa
kommen. Im Zentrum der Überlegungen: Libyen. Von hier setzten und setzen
monatlich Tausende Flüchtlinge nach Italien über. Nimmt man Quellen wie den
BND ernst, stehen an den Ufern dieses zerfallenen Staats Hunderttausende
bereit, um in Europa eine neue Heimat zu finden.
EU-Politiker wollen das gerne verhindern, doch anders als in den
angrenzenden Staaten wie Tunesien, Marokko und Algerien findet sich in
Libyen niemand, dem sie Geld dafür in die Hand drücken können. Die
Maßnahmen, die die EU finanziert hat, die Grenzzäune, die
Hightechausrüstung der Grenzer, haben vielleicht bewirkt, dass weniger
Flüchtlinge diese Länder als Transitland benutzen. Aber wer dort zuvor
Geschäfte mit den Flüchtlingen gemacht hatte, geht nun einfach über die
Grenze nach Libyen. Im dortigen Chaos ist alles machbar.
Libyen ist in so viele Teile zerfallen, dass kaum jemand die Übersicht
behalten hat: Auf der einen Seite gibt es die vom Westen unterstützte
Einheitsregierung, die von der Marinebasis aus in der Hauptstadt Tripolis
ganz Libyen zu regieren versucht. Zwar hat sie mittlerweile
Schlüsselpositionen des libyschen Rumpfstaats eingenommen, beherrscht die
Zentralbank und den Ölsektor. Doch davon abgesehen, ringt die
Einheitsregierung um Einfluss über andere Institutionen und kann nur mühsam
Fuß fassen. Denn sie konkurriert mit Teilen der ehemaligen Regierung und
Verwaltung, die sich in der westlichen Region des Landes nach dem Sturz
Muammar Gaddafis festgesetzt haben.
Gleichzeitig gibt es im reichen Osten Libyens eine weitere Regierung
inklusive Parlament und Gegenzentralbank, die von Russland unterstützt
wird. Dazu kommen etwa 2.000 Milizen, die ihren Standpunkt je nach
politischer Wetterlage ändern, die nur ihren eigenen, kleinteiligen Vorteil
suchen. Die einzige Konstante in diesem Wirrwarr sind die Städte: Wie im
Italien der Renaissance sind sie politische Gravitationszentren. Ihre
Position, ihre Haltung bestimmt darüber, wie sich die Milizen ausrichten,
wen sie unterstützen, für wen sie kämpfen.
## Potemkinsche Dörfer
An der Hauptstadt Tripolis wird deutlich, wie tief sich diese Anarchie in
das Bewusstsein der Menschen eingefräst hat: Jederzeit können sie wieder in
das Kreuzfeuer der vier wichtigsten Milizen der Stadt geraten, fürchten die
Bewohner. Nichts ist sicher, nichts währt lange. All jene Institutionen,
die einen modernen Staat ausmachen, sind zwar vorhanden – aber nur dem
Anschein nach. Der Begriff „Potemkinsche Dörfer“ trifft es am besten. Zur
Erklärung: Der russische Fürst Potemkin ließ überall dort, wo der Zar
vorbeifuhr, prächtige Fassaden errichten, damit sein Herrscher nur
Modernität sah, wo in Wirklichkeit Dreck und Elend regierten.
Libyen ist ein Potemkinscher Staat. Die Polizei im Stadtbild untersteht den
jeweils lokal dominanten Milizen; Gerichte und Staatsanwälte gibt es nicht.
Lokale Machthaber können es sich leisten, missliebige Stadtviertel
niederzubrennen. Der selbst ernannte General Haftar im Osten Libyens hat
der Einfachheit halber seine Truppen denn auch „Libysche Armee“ getauft.
Eine Myriade von Konflikten durchzieht das Land, spaltet und atomisiert es.
Von Gaddafis Pseudostaat ist wenig übrig geblieben – außer den Waffen, dem
Öl und der Gesundheitsversorgung. Waffen sind mittlerweile reichlich
vorhanden, auch in der Bevölkerung: Eine Pistole ist das absolute Minimum
an Bewaffnung. Die Ölförderung beträgt mittlerweile nur noch ein Drittel
der Fördermenge von 2011, und die Gesundheitsversorgung bricht immer weiter
zusammen. Sie ist zwar immer noch kostenlos, aber wer sein Leben in die
Hände eines guten Arztes legen will, begibt sich in eine der teuren
Privatkliniken.
Und da ist wieder das nächste Problem: Die Libyer haben trotz ihres Öls
immer weniger Geld – und sie kommen nicht einmal an das Geld auf ihren
Konten heran, weil die Banken aus Angst vor Inflation Bargeld nur noch in
sehr beschränkten Mengen auszahlen.
## Flüchtlinge als gutes Geschäft
Das Land ist so zerrüttet, dass mittlerweile jeder vierte Einwohner auf
humanitäre Hilfe angewiesen ist. Und mitten in diesem Chaos: die
Flüchtlinge, aus West- und Ostafrika vor Diktatur und Elend geflohen. Für
die Libyer sind sie ein gutes Geschäft. Bis sie aus den Saharastädten an
die Küste kommen, drücken die Flüchtlinge Tausende US-Dollar an
Menschenschmuggler ab. Und in den Küstenstädten müssen sie sich als billige
Arbeitskräfte verdingen, um das Geld für die Überfahrt zu verdienen. Dort
wiederum warten Straßenräuber und Milizen darauf, ihnen dieses Geld wieder
abzunehmen.
Eine riesige Wertschöpfungskette baut auf den Flüchtlingen auf – schon
Gaddafi und seine Gefolgsleute haben von ihrem Europatraum profitiert.
Periodisch ließen sie Flüchtlinge nach Italien übersetzen und stellten dann
Forderungen an die EU: Noch 2010 verlangte der Diktator einen jährlichen
Tribut von 5 Milliarden Euro von der EU, um die Flüchtlinge zu stoppen.
Durch Gaddafis Abgang wurden alle Verträge obsolet.
Nun sucht die EU wieder nach Möglichkeiten, die Flüchtlinge zu stoppen.
Immer wieder hat sie angekündigt, 100 Millionen in den libyschen
Grenzschutz zu investieren. Und damit man wieder die Prioritäten erkennt,
hat die EU auch gleich eine Institution geschaffen, das „Stabilization
Instrument“. Damit soll die Gesellschaft Libyens wieder ins Gleichgewicht
gebracht werden. Ausgestattet mit sagenhaften 18 Millionen Euro.
25 Jul 2016
## AUTOREN
Alexander Bühler
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