# taz.de -- Angriff in Zug bei Würzburg: Scheinbar integriert | |
> Ein junger, scheinbar bestens integrierter Flüchtling versucht im Namen | |
> des IS zu morden. Warum? | |
Bild: Der Regionalzug nach dem Axt-Angriff bei Würzburg am 18. Juli | |
Würzburg/Berlin taz | Es ist der 30. Juni 2015, als am Grenzübergang Passau | |
295 Flüchtlinge um Einlass nach Deutschland bitten. Unter ihnen ist ein | |
junger Mann, dunkle Haare, sportliche Figur. Er stellt sich den Beamten als | |
Riaz Khan Ahmadzai vor. 16 Jahre, geflohen aus Afghanistan, momentan ohne | |
Familie, keine Papiere. | |
Es ist der Beginn einer Geschichte, die zu einem Happy End hätte führen | |
können. Denn Ahmadzai landet in Ochsenfurt, einer kleinen bayrischen Stadt | |
mit 11.000 Einwohnern, wo viele in der Flüchtlingshilfe engagiert sind. Er | |
zieht in eine Unterkunft des katholischen Kolpingwerks, am Rande der | |
Altstadt, mit wenigen anderen Flüchtlingen – junge Unbegleitete wie er. Ein | |
Jugendhelfer und ein Helferkreis von Ochsenfurtern kümmern sich um | |
Ahmadzai. Er nimmt an einem Deutschkurs teil, absolviert einen Schwimmkurs, | |
macht ein Praktikum bei einem Bäcker, hat dort Aussicht auf einen | |
Ausbildungsplatz. Anfang Juli kommt er in eine Pflegefamilie, auf einen | |
Bauernhof vor Ochsenfurt. Freundlich, ausgeglichen sei er, sagen die, die | |
ihn kennen. | |
Dann steigt Ahmadzai [1][am Montagabend in eine Regionalbahn nach | |
Würzburg]. Auf einer Toilette packt er ein Messer und ein Beil aus und | |
hackt unvermittelt auf eine Urlaubergruppe aus Hongkong ein. „Mit großer | |
Wucht“, wie Ermittler später sagen, „in einem Rausch“. Ahmadzai schreit | |
„Allahu akbar“, Gott ist groß. Als er aus der Bahn stürmt, schlägt er mit | |
der Axt noch einer Frau ins Gesicht. „Ich mach dich fertig, du Schlampe“, | |
schreit er. Dann erschießen ihn zwei SEK-Beamte. | |
„Ein Schock“, sagt der Bürgermeister von Ochsenfurt. Niemand aus Ahmadzais | |
Umfeld will etwas bemerkt haben. Für sie war er ein Musterbeispiel | |
gelungener Integration. | |
Hätte man die Radikalisierung nicht doch bemerken können, ja müssen? | |
Braucht es eine bessere Betreuung für minderjährige Flüchtlinge? | |
## Schnelle Radikalisierung? | |
In Ochsenfurt haben sie darauf keine Antworten. Nichts sei auffällig | |
gewesen, zitieren Zeitungen die Pflegefamilie, die inzwischen von der | |
Polizei abgeschirmt wird. „Nett und zuvorkommend“ sei Ahmadzai gewesen. | |
Unter früheren Mitbewohnern, in der Mittelschule, im Helferkreis, beim | |
Sportverein, in der muslimischen Gemeinde in Würzburg, in der Ahmadzai | |
beten ging – überall sagen sie dasselbe. | |
Fotos von sich, die Ahmadzai ins Netz stellte, zeigen ihn lässig mit | |
Kopfhörern oder mit rosa Perücke beim Karneval. Unauffällig sei sein | |
Facebook-Profil gewesen, sagen Ermittler. Selfies mit Mitflüchtlingen oder | |
aus der Würzburger Moschee. In einem Beitrag soll er seine Mutter erwähnt | |
haben: „Ich kann alles vergessen, aber dich nicht.“ | |
Von einer rasanten Radikalisierung sprechen die Ermittler, möglicherweise | |
in nur wenigen Tagen. Zwei Tage vor der Tat soll Ahmadzai vom Tod eines | |
Freundes in Afghanistan erfahren haben. Danach sei er merklich „verändert“ | |
gewesen, habe viel telefoniert. | |
## Normalerweise gibt es Hinweise | |
In Ochsenfurt berichtet die Flüchtlingshelferin Simone Barrientos von einem | |
jungen Afghanen, der vor einigen Wochen einen Abschiebebescheid erhalten | |
habe. „Völlig fertig“ sei dieser gewesen. Auch die anderen Jungs habe das | |
verunsichert. Ahmadzai habe sich ausrechnen können, dass auch er | |
abgeschoben werde, vermutet Barrientos. „Die jungen Leute stehen unter | |
enormem Druck.“ Waren das die Auslöser? Reicht das? | |
Thomas Mücke glaubt nicht an eine Turboradikalisierung. „Das geht nicht | |
innerhalb von Tagen. Da muss ideologisch latent schon etwas angelegt sein.“ | |
Mücke ist Mitbegründer des Violence Prevention Network, seit 25 Jahren | |
berät er bundesweit radikalisierte Jugendliche und ihre Familien. | |
„Normalerweise gibt es immer Hinweise.“ | |
Tatsächlich soll Ahmadzais Facebook-Profil nicht so unauffällig sein, wie | |
die Ermittler anfangs behaupteten. Im April soll er dort laut Bild | |
geschrieben haben: „Offener Hass ist besser als heuchlerische Beziehungen.“ | |
Am Tag der Tat wetterte er über die „Kuffar“, die Ungläubigen. An seinen | |
Vater schrieb er einen Abschiedsbrief: „Und jetzt bete für mich, dass ich | |
mich an diesen Ungläubigen rächen kann, und bete für mich, dass ich in den | |
Himmel komme.“ | |
## Duktus des IS | |
Auch filmte sich Ahmadzai im Zimmer seiner Pflegefamilie. Er trägt ein | |
weißes Shirt, die Haare leicht gegelt, fuchtelt mit einem Messer. „Ich bin | |
ein Soldat des IS“, sagt Ahmadzai auf Paschtu. Die Zeiten seien vorbei, „in | |
denen ihr in unsere Länder gekommen seid, unsere Frauen und Kinder getötet | |
habt“. Und: „Ich werde euch mit diesem Messer abschlachten und eure Schädel | |
mit Äxten brechen.“ | |
Es sind martialische Worte, ganz im Duktus des IS. Das spricht nicht dafür, | |
dass Ahmadzai gerade erst Bekanntschaft mit dieser Propaganda machte. Das | |
Video wird am Tag nach der Tat schließlich auf einer IS-nahen Website | |
veröffentlicht. Auch dafür, den Film dorthin zu übermitteln, kannte | |
Ahmadzai offenbar Wege. Und der IS reklamierte das Attentat umgehend für | |
sich – die erste Tat in Deutschland. | |
Dass Ahmadzai von der Terrororganisation eingeschleust wurde, gilt als | |
unwahrscheinlich. Einen direkten Kontakt des Jugendlichen zum IS sehen | |
Ermittler bisher nicht. Es gibt aber einen anderen Satz in dem | |
Abschiedsvideo, der sie aufhorchen ließ: „Ich werde so ein Durcheinander in | |
euren Straßen anrichten, dass ihr Frankreich vergessen werdet.“ Frankreich, | |
Nizza. Nur drei Tage vor Würzburg tötete ein Attentäter dort 84 Menschen | |
mit einem Lastwagen. Fühlte sich Ahmadzai davon angestachelt? | |
## Keine Anhörung, keine Überpfrüfung | |
Für den Radikalisierungsexperten Thomas Mücke hängt nun alles daran, mit | |
wem Ahmadzai zuletzt telefonierte, nach dem angeblichen Todesfall in | |
Afghanistan. Hier stoßen die Ermittler auf Probleme: Laut Spiegel [2][soll | |
Ahmadzai sein Handy zerstört haben]. Seine Kontakte in die Heimat sind | |
bisher eine große Leerstelle. | |
Fast nichts weiß man bisher von Ahmadzais afghanischer Familie. Er selbst | |
gab den deutschen Behörden als Motiv seiner Flucht einen Onkel an: einen | |
Taliban, der ihn drängte, sich ebenfalls der Terrormiliz anzuschließen. Mit | |
seiner Mutter und Schwester sei er schließlich geflohen, unterwegs aber | |
durch Schlepper von beiden getrennt worden. | |
Vor einiger Zeit stellte Ahmadzai einen Antrag, seine Familie nach | |
Deutschland nachholen zu dürfen. Bis zum Schluss aber fand keine | |
Asylanhörung statt, seine Geschichte wurde nicht überprüft. Auch über den | |
Tod seines Bekannten in Afghanistan ist nichts bekannt. Ist er Kämpfen zum | |
Opfer gefallen? Die Bundesanwaltschaft, die inzwischen die Ermittlungen | |
führt, äußert sich dazu nicht. | |
## Minderjährige „nicht besonders anfällig“ | |
Der Verfassungsschutz sieht junge, alleinstehende Flüchtlinge als | |
„besonders anfällig für die Versprechen der Islamisten“. Florian Endres, | |
Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung beim Bundesamt für Migration, | |
sieht diese Gefahr auch. „Weil diesen Menschen ihr gesamtes soziales Umfeld | |
fehlt, das Beeinflussungen abfangen könnte.“ Nur: Endres’ Zahlen belegen | |
das nicht. 2012 wurde die Beratungsstelle ins Leben gerufen, die über eine | |
Hotline erreichbar ist. Knapp 1.200 Fälle hat diese seither betreut. In | |
rund 70 Fällen waren es junge, alleinstehende Flüchtlinge. | |
In diesen Fällen habe man Experten vermittelt, sagt Endres. | |
Sozialpädagogen, Traumatherapeuten oder Islamkenner, um mit | |
dschihadistischen Mythen aufzuräumen. „Meistens ist ein wesentlicher Ansatz | |
klassische Sozialarbeit“, so Endres. „Die Ideologie ist bei den | |
Jugendlichen oft nur aufgestülpt.“ | |
Tobias Klaus vom Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge sieht | |
das ähnlich: „Wir erleben in unserer Arbeit nicht, dass diese Gruppe | |
besonders anfällig für eine Radikalisierung wäre.“ Im Gegenteil, sagt | |
Klaus, „es sind die jungen Flüchtlinge, die hier am schnellsten Fuß fassen | |
und eine Ausbildung oder Arbeit finden.“ | |
## Betreuung als Prävention | |
Offiziell leben derzeit rund 52.000 unbegleitete jugendliche Flüchtlinge in | |
Deutschland. Gegen wie viele von ihnen wegen Terrorverdachts ermittelt | |
wurde, schlüsseln die Sicherheitsbehörden nicht auf. Nur so viel: Derzeit | |
führt das BKA rund 59 Verfahren gegen Flüchtlinge wegen eines solchen | |
Verdachts. | |
Tobias Klaus sieht aber eine Gefahr. Viele der jungen Flüchtlinge würden | |
heute in großen Einrichtungen untergebracht, mit dem 18. Lebensjahr | |
verlören sie die Hilfsangebote. Die beste Prävention aber seien genau diese | |
Hilfen, sagt Klaus. Nur: War diese enge Betreuung bei Ahmadzai nicht gerade | |
gegeben? Ja, sagt Klaus. Ausnahmen werde es immer geben. „In der Regel aber | |
gilt: Je enger die Jugendlichen betreut werden, desto eher bemerkt man | |
etwas.“ | |
Bei Riaz Khan Ahmadzai wurde nichts bemerkt. Je länger man in Ochsenfurt | |
fragt, desto klarer wird aber auch: Genau gekannt hat ihn offenbar niemand. | |
Wie sehr er in Deutschland angekommen war oder in Gedanken doch noch in | |
Afghanistan: Keiner weiß es. Am Montagabend verabschiedete sich Ahmadzai | |
von seiner Pflegefamilie, er gehe Fahrrad fahren, es könne länger dauern. | |
Sein Drohvideo hatte er da schon gedreht. Dann stieg er in die | |
Regionalbahn und schlug mit Messer und Beil los. | |
Was also ist die Lehre? Am Ende, sagt der Radikalisierungsexperte Thomas | |
Mücke, wisse man nie, was in einem Menschen vorgehe. | |
22 Jul 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Zug-Attacke-in-Wuerzburg/!5319857 | |
[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wuerzburg-axt-attentaeter-wollte-… | |
## AUTOREN | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
Konrad Litschko | |
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