# taz.de -- Die Wahrheit: Dämme gegen Sahnefluten | |
> Die Milchkrise ist ausgebrochen. Ganz Europa ertrinkt in überschüssigem | |
> Kuhsaft. Kann das neue Rettungspaket da noch helfen? | |
Brüssel, vergangenen Montag. Ein milchweißer Mond taucht den Palais du Lait | |
in der Rue du Fromage in ein quarkfahles Licht. Hinter den hellerleuchteten | |
Fenstern hocken seit Stunden die Agrarminister der Europäischen Union | |
zusammen und schwitzen. Sie leiden heftig unter dem Hilfspaket zur Behebung | |
der schweren Milchkrise, die den Kontinent seit Jahresbeginn schüttelt. | |
Gegen Mittag haben sie das Paket routiniert abgenickt, das ihnen | |
EU-Agrarkommissar Phil Hogan nur flüchtig vorgestellt hatte. Seitdem müssen | |
sie ausbaden, was im Kleingedruckten steht: Jeder von ihnen hat sich | |
persönlich verpflichtet, im Laufe des Treffens satte fünf Liter Vollmilch | |
„vom Markt zu nehmen“. | |
Ein stechend säuerlicher Geruch hängt über dem Konferenztisch, während die | |
Landwirtschaftsminister tapfer Glas für Glas der seimigen Flüssigkeit in | |
sich hineinpumpen. Die Julihitze ist unerträglich, die Milch in den Krügen | |
beginnt zu klumpen. Christian Schmidt, der unauffällige Deutsche, macht als | |
erster schlapp. Schlotternd erhebt er sich von seinem Melkschemel und ächzt | |
unter seinem Milchbart: „Ich kann nicht mehr.“ Dann taumelt er durch die | |
flatternden Vorhänge hinaus auf die Terrasse und übergibt sich in die | |
Blumenrabatten. | |
So wie Agrarminister Schmidt geht es, bildlich gesprochen, dem gesamten | |
Kontinent. Seit die alte Milchquotenregelung Anfang des Jahres ausgelaufen | |
ist wie ein Tetrapak mit H-Milch, in das jemand einen Dolch gestoßen hat, | |
leidet ganz Europa unter einer Milchschwemme, einem Joghurtsturzbach, einer | |
Sahneflut, die von vielen nur mehr als übelkeitserregend empfunden wird. | |
Die Kühe feuern aus allen Eutern. Die Melkmaschinen rattern wie verrückt | |
rund um die Uhr. Die Molkereien kommen mit dem Pasteurisieren, | |
Sterilisieren und Homogenisieren kaum noch hinterher und verschenken | |
bottichweise Umgekipptes an ihre Mitarbeiter – deklariert als „Kefir“ oder | |
„Sauermilcherzeugnis“. | |
Folge dieser Überproduktion: Die Milchpreise fallen ins Bodenlose. Jeden | |
Tag stellen die Milchmädchen niedrigere Rechnungen aus, die erstmals in der | |
Menschheitsgeschichte sogar stimmen – es handelt sich ja nur noch um | |
Centbeträge. Im Juni kostete Milch bereits weniger als Mineralwasser, | |
Butter weniger als Margarine und die gesamte Entwicklung viele Landwirte | |
ihren Schlaf. | |
## Sahnetorten sind Arme-Leute-Essen | |
Kein Wunder: Der rapide Preisverfall dessen, was früher einmal „das weiße | |
Gold Europas“ genannt wurde, bedroht nicht nur die Existenz der | |
Milchbauern, sondern auch ihre gesellschaftliche Reputation. Wer früher | |
einem Bettler ein paar Kupfermünzen in den Hut pfefferte, wirft ihm jetzt | |
ein paar Milchpackungen hinterher. McDonald’s nimmt den Milkshake aus dem | |
Programm. Sahnetorten, -saucen und -heringe gelten nur noch als Essen für | |
die ganz Armen. | |
In der Rangliste der am meisten verachteten Berufe hat der Milchbauer sogar | |
den Journalisten überrundet, was nicht allein an der Milchkrise liegt, | |
sondern auch an jenen, die diese Krise seit einiger Zeit nach Kräften | |
befördert haben: die Veganer und die Laktoseintoleranten. Vor allem jedoch | |
die angeblich Laktoseintoleranten, die sich nur aus Prestigegründen Soja-, | |
Mandel-, Reis- und Hafermilch in den Rachen schütten, sowie die | |
Journalisten, aus Eigeninteresse. Sie alle haben dem Original, dem | |
leckeren, gesunden und überaus calciumhaltigen Kuhsaft, ein Renommee | |
verschafft, das irgendwo zwischen hochallergenem Imprägnierspray und | |
Crystal Meth liegt. | |
Das Rettungspaket der Europäischen Union kommt also keine Sekunde zu früh. | |
Es umfasst 500 Millionen Euro, von denen 150 Millionen an Milchbauern | |
gehen, die ihren Betrieb unverzüglich einstellen und einen sinnvolleren | |
Beruf ergreifen, zum Beispiel Journalist. Der Rest geht an die | |
Mitgliedsstaaten zur eigenständigen Verteilung, den größten Batzen aber von | |
58 Millionen sahnt mal wieder Deutschland ab. Einige Experten haben bereits | |
darauf hingewiesen, dass diese Summe angesichts von bundesweit etwa 71.000 | |
Milchviehbetrieben nur ein Milchtropfen auf den heißen Stein sein kann. | |
Andere sagen: 800 Euro pro Betrieb – das ist mehr, als die meisten von | |
ihnen in diesem Jahr erwirtschaften! | |
Einig sind die Fachleute nur in einem: So wie es ist, kann es nicht | |
bleiben, vor allem nicht für den kleinen Milchbauern mit seinem morgens | |
namentlich per Handschlag begrüßten Fleckviehdutzend, der endlich wieder | |
kostendeckend arbeiten können muss. Daran ist im Augenblick aber nicht zu | |
denken. Einzelne Großmolkereien planen schon, analog zum Negativzins in der | |
Bankenbranche, mit Negativpreisen: Der Konsument bekäme dann pro | |
abgenommenem Liter Milch zehn Cent – Hauptsache, das leicht verderbliche | |
Lebensmittel wird nicht noch saurer, ist endgültig vom Markt, drückt die | |
Preise nicht noch verheerender nach oben, auf 20, 30 oder 40 Cent! | |
## Katastrophe statt Krise | |
In einem solchen Fall wäre aus der Milchkrise nämlich längst eine | |
Milchkatastrophe geworden, wie Experten prophezeien. Diese hätte furchtbare | |
Auswirkungen auf unsere Volkswirtschaft. Zehntausende von Höfen müssten von | |
einem auf den anderen Tag schließen, Massenschlachtungen wären | |
unvermeidlich, der Gestank wäre unerträglich. Das Überangebot an | |
Rindfleisch würde wiederum den Fleischmarkt zusammenbrechen lassen, andere | |
Branchen müssten folgen, die Finanzmärkte kollabieren. Dann Hungersnöte, | |
Seuchen, Insektenschwärme, Armageddon. | |
Um dieses Schreckensszenario nicht Wirklichkeit werden zu lassen, so die | |
Forderung vieler Fachleute und Melkerinnen, müssten die Verbraucher wieder | |
bereit sein, für Milch zu zahlen, vielleicht sogar mit richtigem Geld. Ob | |
dies aber ausgerechnet in Zeiten möglich ist, so geben Verbraucherschützer | |
zu bedenken, in denen sich die Leute daran gewöhnt haben, täglich in | |
Badewannen voller Milch zu baden, ihre Häuser mit Milchreis zu dämmen und | |
ihre Autos am Wochenende mit Milch zu waschen, steht in den Sternen, und | |
zwar in jenen der Milchstraße. | |
Am Ende muss es also vermutlich wieder der Staat richten. Schon jetzt | |
lagert er in großem Umfang Milchpulver ein, das sonst nur in der | |
Kindernahrungsproduktion und, noch raffinierter, der Heroindistribution | |
gebraucht wird. Damit ist die volkswirtschaftlich toxische Substanz dem | |
wohl doch nicht so gut funktionierenden Marktgeschehen entzogen und kann | |
keinen weiteren Schaden anrichten. | |
Hier muss die Regierung ihre Anstrengungen verdoppeln, ach was, | |
verhundertfachen. Sie muss sämtliche Milch zu marktunüblichen Preisen | |
ankaufen, sogleich zu Pulver machen lassen und für mehrere Jahre in | |
Salzstollen einlagern. Sobald Milch wieder ein knappes und begehrtes Gut | |
geworden ist, lässt sie ein paar Tonnen raus, wartet, bis findige | |
Geschäftsleute Szene-Milchbars eröffnen und die Hipster bereit sind, für | |
ein Glas Craft-Milk jeden noch so irren Preis zu zahlen. Dann renkt sich | |
das alles nach und nach wieder ein. | |
Bis dahin trösten wir uns mit einem alten Rezept: 20 ml Tränen über 500 ml | |
vergossene Milch tropfen lassen – ist zwar völlig sinnlos, macht aber Spaß! | |
23 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
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