# taz.de -- Sport und Protest in Frankreich: Unterm Rad der Geschichte | |
> Die Tour ist nicht mehr das Einzige, was Franzosen im Sommer | |
> interessiert. Terror und Krise drängen sich vor. Proteste werden | |
> unterdrückt. | |
Bild: Zwischen Orten: der Australier Rohan Dennis auf der Tour-Strecke in der R… | |
MONT VENTOUX taz | Sicherheit steht an der ersten Stelle dessen, was die | |
französische Bevölkerung von der Politik erwartet. Das war schon vor dem | |
[1][Anschlag in Nizza] so: Bei einer Umfrage, welche Themen Präsident | |
François Hollande in seiner Rede zum Nationalfeiertag behandeln solle, | |
wurde mit großem Vorsprung Sicherheit (58 Prozent), genannt, danach | |
Arbeitslosigkeit, Steuern, EU und Einwanderung. | |
Von Sport oder Sportevents war nicht die Rede. Die Tour de France ist, so | |
darf man aus dieser Anforderungsliste schlussfolgern, nicht die ganz | |
brennende Angelegenheit für die Mehrheit der Franzosen. | |
Sie findet aber statt. Und an ihr werden auch einige Probleme des Landes | |
deutlich. Die Krise zum Beispiel. Ohne großes Aufsehen hat die Tour ihre | |
Zahlen nach unten korrigiert. Wurden für das Vorjahr noch bis zu 13 | |
Millionen Zuschauer an der Strecke als Vergleichszahl kommuniziert, so | |
liegt die Zahl bei dieser Tour bei 10 bis 12 Millionen. Klar, es sind alles | |
Projektionen. Aber die verschärften Sicherheitsmaßnahmen bringen es mit | |
sich, dass die Rennstrecke schon früher für nichtakkreditierte Autos | |
geschlossen wird und deshalb weniger Personen überhaupt zu den | |
neuralgischen Punkten an Start und Ziel gelangen können. | |
Passiert ist bisher nichts. In den Etappenstädten hat das Innenministerium | |
aufgrund der Terrorgefahr Stabsstellen eingerichtet, die die verschiedenen | |
Polizei-und Armeeeinheiten koordinieren. Sogar die Antiterroreinheit GIGN, | |
gegründet einst als Reaktion auf das Olympiaattentat 1972 in München und | |
zuletzt maßgeblich an der Jagd auf die Charlie-Hebdo-Attentäter beteiligt, | |
stellt eine Abordnung zur Tour. | |
Die Einschränkungen bemerkt auch Tourteufel Didi Senft. Der Deutsche, der | |
zum Symbol der Tour wurde, schaffte es in den Pyrenäen nicht einmal auf den | |
jeweils vorletzten Gipfel des Tages. „Man muss es wohl machen wie die | |
Holländer. Die postieren sich 30 Kilometer nach dem Start, wo alles noch | |
frei ist, und fahren dann zur nächsten Etappe weiter“, sagt er. | |
Etwas reduziert ist auch die Werbekarawane. Wurden im Vorjahr dort noch 180 | |
Fahrzeuge gezählt, so teilt der Tour-Veranstalter, die Amaury Sport | |
Organisation (ASO) mit, dass es jetzt 170 sind. Ein paar Werbepartner – das | |
Budget für einen Auftritt in der Karawane bewegt sich zwischen einer | |
Drittel- und einer vollen Million Euro – sind entweder abgesprungen oder | |
haben ihr Engagement reduziert. | |
## Werbekaravane mit subtiler politscher Wirkung | |
Trotzdem ist die Tour noch immer groß und produziert weiter leuchtende | |
Augen. Gerade wenn die Werbekarawane vor dem Peloton durch die Orte fährt. | |
Gierigen Blickes stehen Zehn-, ja Hunderttausende pro Etappe am Wegesrand | |
und lauern auf die Objekte, die ihnen aus den bunten Fahrzeugen hingeworfen | |
werden. Die jeweilige Enttäuschung merkt immer das Auto danach: den Blick | |
nach der Erkenntnis, jetzt ein nutzloses Fähnchen, ein T-Shirt in | |
Fehlfarben und der unpassenden Größe oder gar nur eine Werbebroschüre in | |
der Hand zu halten. Aufs übernächste Auto hingegen wird mit der Gier des | |
Anfangs geblickt, hingesprungen gar, der Regenschirm wieder aufgespannt, um | |
mit seiner Innenseite ganz große Mengen des Giveaway-Regens aufzufangen. | |
Die Werbekarawane hat freilich auch eine ganz subtile politische Wirkung. | |
Bei den Franzosen am Straßenrand wird die Sorge um die Sicherheit und die | |
Zukunft ihrer Arbeit ebenfalls stark verbreitet sein. Es ist ja, neben all | |
den Touristen, ein Querschnitt der französischen Gesellschaft, der sich an | |
der Strecke aufbaut – mit Klappstuhl und Campingtisch, mit Baguette und | |
Salat, mit Wein und Grillgut. Wer aber das Werbetransparent eines | |
Wasserherstellers oder die große Tafel eines Autoproduzenten in der Hand | |
hält, kann nicht gleichzeitig ein Protestplakat in die Höhe recken. | |
Dass keine politischen Parolen zu sehen sind, dafür sorgt auch die ASO. | |
Seit Jahren fährt dem Konvoi eine besondere Straßenputzmaschine voraus. Sie | |
tilgt die Aufschriften, die beleidigend sein können oder rassistisch sind, | |
aber auch solche, die von sozialem und politischem Protest zeugen, vom | |
Asphalt. Druck mit dem Wasserstrahl, damit die Kameras der globalen | |
Sportöffentlichkeit nur das zeigen, was gewünscht ist. | |
Nicht einmal die zornigen Weinbauern des Languedoc-Roussillon konnten | |
bislang ihren Unmut sichtbar machen. Denn das alkoholische Sprudelwasser, | |
das die Sieger vom Podium in die Menge spritzen, kommt von einem | |
chilenischen Unternehmen. „Skandal, Skandal“, schrien die | |
Weinbauernvertreter im Frühjahr. Die militante okzitanische Organisation | |
Crav, die auch schon mal Bomben für die Interessen lokaler Weinbauern legt, | |
hatte Aktionen angekündigt. | |
## Demos als Begleiterscheinung | |
Die Tour de France ist ein Privatunternehmen. Die ASO will solche Aktionen | |
verhindern. Zwar waren Proteste und Demonstrationen in den letzten Jahren | |
immer wieder Begleiterscheinung, aber 2016 gab es sie nicht – [2][trotz | |
Streiks] und [3][Nuit debout]. Allerdings macht der Streckenplan einen | |
Bogen um die großen Ballungszentren, in denen sich der Protest gegen das | |
neue Arbeitsrecht konzentriert. Ausnahme ist Paris am Ende der Tour. | |
Alle Sicherheitsanstrengungen konnten jedoch einen Zwischenfall nicht | |
verhindern: Am Mittwochabend hatten die Organisatoren die völlig richtige | |
Entscheidung getroffen, die Etappe um sechs Kilometer zu verkürzen und | |
statt des Gipfels nur das Chalet Reynard nach zehn Kilometern Anstieg | |
anzufahren. Auf dem Gipfel gab es Windböen von bis zu 100 km/h. Sie hätten | |
nicht nur die Fahrer, sondern auch das gesamte Equipment gefährdet. Selbst | |
am tiefergelegten Ziel gab es daher keine große Videowand, ja überhaupt | |
kein öffentliches Fernsehen. Auch auf große Tribünenbauten wurde | |
verzichtet. | |
Aber: Die vielen Hunderte Meter Absperrgitter, die oben schon standen, | |
brachte man nicht herunter, an den Rand der Strecke. Eine Lappalie mit | |
dramatischer Konsequenz: Weil sich auf der Strecke zu viele Menschen | |
ballten, musste das Begleitmotorrad stoppen, über das dann der | |
Gesamtführende Chris Froome und seine Begleiter Bauke Mollema und Richie | |
Porte stürzten. Das alles löste einen kuriosen Dauerlauf Froomes aus und | |
führte auch zu der umstrittenen Jury-Entscheidung, dem Briten eine bessere | |
Zeit zu geben und ihm damit das Gelbe Trikot zu erhalten. | |
Dass es nicht gelang, binnen 24 Stunden jene langen Reihen von | |
Absperrgittern, die weiter oben am Berg schon aufgebaut worden waren, | |
herunterzubringen, ist keine Ruhmestat. Sie lässt auch nichts Gutes für | |
jene Freiwilligenarmee erwarten, die Präsident Hollande nach dem Anschlag | |
in Nizza ankündigte. Was soll ein Heer von 40.000 Freiwilligen, wenn es | |
möglicherweise schlecht angeleitet ist? So schlecht eben wie in dieser | |
besonderen Situation am Mont Ventoux. | |
Die Polizisten, die auf dem letzten Kilometer fehlten, die Menge so im Zaum | |
zu halten, dass ein Radrennen ordentlich durchgeführt werden konnte, hielt | |
sich dann im Zielbereich selbst an den wenigen Journalisten schadlos, die | |
es auf den Berg geschafft hatten. Ihnen wurden Wege verboten und Durchlass | |
verweigert, als sei der Mont Ventoux zum Ground Zero mutiert. Die | |
Sicherheitsmaschine erhitzte sich kurz einmal. | |
Nicht zur Stelle waren die Polizisten übrigens auch, als sich eine kleine | |
Abordnung von mit französischer Fahne ausgestatteten besoffenen | |
Radsporthooligans zum Bus von Chris Froome begab, um den Briten mit | |
hämischen Gesängen zu beleidigen. Zu dem Zeitpunkt hatte die Jury noch | |
nicht entschieden, Froomes Sturz nicht als normalen Rennunfall zu werten | |
und die Zeitabstände unmittelbar vor der Kollision in die Wertung zu | |
nehmen. | |
Am Nationalfeiertag gab es auf dem mythischen Radsportberg also eine ganz | |
hässliche Szene mit der Trikolore. Sportlich stehen die Franzosen übrigens | |
gar nicht so schlecht da: Romain Bardet, vor dem Zeitfahren auf Platz fünf | |
notiert, nur ist nur 21 Sekunden vom Podium entfernt, auf dem er auch schon | |
einmal stand. Der mit Podiumsambitionen gestartete Thibaut Pinot liegt zwar | |
schon über 42 Minuten zurück, versucht aber dennoch stets sein Glück in | |
Ausreißergruppen. Nur Warren Barguil, Kapitän des deutschen Giant-Teams, | |
der mit Top-zehn-Ambitionen gestartet war, belegt einen wenig gigantischen | |
15. Platz und hat sich pro Berg immer eine Minute Rückstand eingehandelt. | |
Für Freude müssen die Franzosen am Straßenrand schon selbst sorgen. Sie | |
verkleiden sich als Schneewittchen und die sieben Zwerge, zwängen sich in | |
Bären-, Hasen- und Pinguinkostüme. Und wenn der Wind gut weht, wie zuletzt | |
am Mont Ventoux, dann bläht sich wenigstens auch ganz malerisch die | |
Trikolore. Doch noch was Schönes am Nationalfeiertag. | |
15 Jul 2016 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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