# taz.de -- Nuit-Debout-Bewegung in Frankreich: Raus in den Garten | |
> Die „Nuit Debout“-Proteste hielten manche für vergleichbar mit 1968. Ein | |
> Jahr später haben sich viele Aktivisten ins Private zurückgezogen. | |
Bild: Auf dem Container genauso zu Hause wie im Schrebergarten: Nuit-Debout-Akt… | |
Paris taz | Die Cité Aubry liegt tief im Pariser Osten, am Rand des | |
berühmten Père-Lachaise-Friedhofs. Ein einfaches Wohngebiet, es ist ruhig | |
dort. Auf einer Baulücke zwischen Mehrfamilienhäusern ist ein | |
Gemeinschaftsgarten entstanden, die Wände der Mauern sind mit Graffiti | |
besprüht, ein Dutzend Menschen werkelt vor sich hin. Vor einem Hochbeet in | |
Badewannengröße steht Baki Youssoufou, 39, in Sierra Leone geborener | |
Franzose, in einem blauen Wollpullover, die Rastazöpfe zusammengebunden, | |
und sticht einen Pflock in die Erde. „Wir gehen sowieso nicht zur Wahl“, | |
sagt er. „Die Präsidentschaft interessiert uns nicht.“ Noémie Toledano, | |
seine Freundin, wickelt Faden von einer Rolle und bindet einen | |
aufsprießenden Himbeerstrauch an den Pflock. | |
Es ist der Tag der Vorwahlen in Frankreich und eine eigenwillige Ruhe liegt | |
über Paris. Zwölf Stunden sind es noch, bis die Wahllokale öffnen, doch | |
schon am Vortag haben die Kampagnen der Kandidaten ihr vorschriftsmäßiges | |
Ende gefunden. Die Bürger dürfen weiter für ihre Sache werben, aber dazu | |
haben nur wenige Lust. Die Demonstranten der „Nuit Debout“-Bewegung | |
verlaufen sich an diesem grauen Samstagnachmittag auf dem großen Place de | |
La Bastille, diesem Urort der französischen Demokratie, ein paar | |
eingeworfene Scheiben zeugen von ihrem Marsch, doch schon nach kurzer Zeit | |
ist von dem kleinen Aufzug nichts mehr zu sehen. | |
Vor einem Jahr, zur Hochzeit der radikaldemokratischen Jugendrevolte Nuit | |
Debout, war das noch ganz anders. Youssoufou und Toledano seien von Anfang | |
an dabei gewesen, sagen sie. Es gibt in Paris viele, die die Urheberschaft | |
von Nuit Debout für sich beanspruchen, aber Youssoufou und Toledano haben | |
immerhin gerade ein Buch namens „#32mars“ herausgebracht, das ihre zentrale | |
Rolle bei den Protesten zeigt. Am Anfang, so sagen sie, seien die | |
Massenproteste „bloß ein Facebook-Aufruf von fünf Aktivisten“ gewesen, | |
denen die Reform des Arbeitsrechts von Präsident François Hollande nicht | |
behagte. Spontan, ungesteuert, von unten, versichert Toledano. „Die | |
Gewerkschaften sind da nur aufgesprungen“, sagt Youssoufou. | |
Wie auch immer es sich zugetragen hat, so viel steht fest: Ende März 2016 | |
gingen 400.000 Menschen in Frankreich auf die Straße. Sie protestierten | |
dagegen, dass die Jugendarbeitslosigkeit bei fast 25 Prozent lag, den | |
regierenden Sozialisten aber nichts Besseres dazu einfiel, als den | |
Kündigungsschutz zu verringern. Wochenlang besetzten Demonstranten die | |
Place de la Republique, manche Kommentatoren ließen sich hinreißen, Nuit | |
Debout „mehr Kraft als 1968“ zuzusprechen. | |
## Bohnen oder Süßkartoffeln | |
Die Versammlungen waren das französische Echo auf Occupy in New York, die | |
Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen, die 15M-Bewegung der „Indignados“ | |
in Spanien. Als die Polizei Nuit Debout nach sechs Wochen von der Place de | |
la Republique räumte, kam es zu Straßenschlachten von solchem Ausmaß, dass | |
die französische Polizeigewerkschaft ihrerseits zu Demonstrationen aufrief | |
– wegen Gewalt gegen Polizisten. | |
Heute haben Youssoufou und Toledano nicht mal auf Twitter nachgesehen, wie | |
der Versuch verlaufen ist, Nuit Debout vor der Präsidentschaftswahl | |
wiederzubeleben. „Wie viele waren es denn?“, fragt Youssoufou. | |
2.500, wird geschätzt. | |
Er wiegt den Kopf, als tue er sich schwer mit der Deutung dieser | |
Information. „Das ist nicht viel.“ Er nimmt die Gießkanne, Toledano hackt | |
im Beet herum. | |
„Kommen hier Bohnen rein?“, fragt eine ältere Frau. „Nein“, sagt | |
Youssoufou. Tomaten. | |
„Süßkartoffeln, das wäre doch auch schön“, sagt die Dame. | |
„Ja“, sagt Youssoufou. „Aber die brauchen mehr Erde.“ Er deutet auf das | |
Beet. „Hier geht das nicht.“ | |
Seit Jahren ist das Paar in der Pariser Politszene aktiv: Antirassistische | |
Bildungsarbeit, direkte Demokratie, Internetkampagnen – und dann die | |
Besetzungen. „Occupy La Défense“, die Besetzung des Geschäftsviertels im | |
Nordwesten von Paris, 2011. „Occupy Bastille“, in der Pariser Innenstadt, | |
2012, es ging gegen den damaligen rechten Präsidenten Nicolas Sarkozy. „Ich | |
war dabei, ich habe auf den Plätzen geschlafen“, sagt Youssoufou. | |
Die Gartenarbeit ist beendet, die beiden schlagen vor, in eine Bar in der | |
Nähe zu gehen. Youssoufou bestellt erst Wein, aber als er hört, dass es | |
eine bestimmte Sorte Pale-Ale-Bier aus Brooklyn gibt, bestellt er das. | |
„Auch ich habe 2012 für Hollande gestimmt“, sagt er dann. Er war nicht der | |
Einzige. Als die Sozialisten an die Regierung kamen, erlahmten die Kräfte | |
der radikaldemokratischen Platzbesetzer. Manche setzten Hoffnungen in die | |
neue Regierung. Youssoufou ging nach Barcelona. Dort kam die ähnlich | |
gesinnte 15M-Bewegung in Fahrt. Youssoufou lernte, wie man Videos macht. | |
Dann kam der Terror nach Frankreich, und Hollande schlug vor, Terroristen | |
die französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen und ins Herkunftsland der | |
Eltern abzuschieben. Für Youssoufou war das ein Schritt in Richtung Front | |
National. Er hat eine Onlinekampagnenplattform gegründet. Sie heißt „We | |
sign it“, „Wir unterschreiben“. Für Youssoufou ist das Internet heute ein | |
wichtiger Ort der Willensbildung. Die Parteien haben diese Rolle für ihn | |
verloren. Als Hollande mit dem Terrorgesetz kam, „wollte ich nicht mehr mit | |
den Leuten von der sozialistischen Partei sprechen“. Hollande habe einen | |
„großen ethischen, moralischen Fehler“ begangen. Er habe viel geredet, sagt | |
Youssoufou, aber nichts getan. | |
## Revolte im Schrebergarten | |
Es gibt viele Menschen wie Youssoufou, die bei Nuit Debout auf die Straße | |
gingen, als die Gewerkschaften zum Kampf gegen das Arbeitsgesetz aufgerufen | |
haben, die aber ganz anderes umtrieb als schlecht bezahlte Überstunden, | |
leichtere Entlassungen und niedrigere Abfindungen. Nuit Debout hatte Platz | |
für jeden, der irgendwie unzufrieden war. Youssoufou nutzte sein Wissen | |
über Videoaktivismus, das er in Spanien erworben hatte, baute eine Gruppe | |
auf, die die Besetzungen filmte und die Bilder ins Internet stellte. „Wir | |
wollten die Erzählung der sozialen Mobilisierung kontrollieren“, sagt er. | |
Drei Tage Platzbesetzung waren geplant, sechs Wochen sind die Menschen | |
geblieben. „Es war ein Symbol. Es ging darum, etwas zusammen zu tun“, sagt | |
Toledano. „Die Mächtigen sagen immer: ‚Es geht nicht anders‘. Wir wollten | |
zeigen, dass es anders geht. Wir haben das Gefühl bekommen, dass uns nichts | |
aufhalten kann.“ | |
Sechs Wochen saßen sie auf der Place de la Republique, dann kam die Polizei | |
und räumte. Einen Monat später stimmte das Parlament Hollandes | |
Arbeitsrechtsreform zu. Hatte ihr Gefühl sie betrogen? | |
Toledano und Youssoufou sehen das nicht so. Nuit Debout war für sie ein Ort | |
neuer politischer Erfahrung. „Bei uns mussten 70 bis 80 Prozent der | |
Anwesenden einer Entscheidung zustimmen, alle sollten sich zufrieden | |
fühlen“, sagt Toledano. „Ich konnte den Gewerkschaftern vier Wochen lang | |
erklären, was Polizeigewalt gegen Schwarze ist, was das für eine Demütigung | |
bedeutet. Weiße Menschen, auch Aktivisten, verstehen das nicht, aber damals | |
auf dem Platz der Republik habe ich es ihnen erklärt“, sagt Youssoufou. | |
Diese Zeit ist vorbei. Aus Nuit Debout sei ein Netzwerk entstanden, „mit | |
gemeinsamer Sprache und gemeinsam akzeptierten Regeln“, sagt Toledano – und | |
neuen Zielen. Keine symbolischen Aktionen mehr, sondern Praxis, so sehen | |
sie das. Statt auf die Straße zu gehen, sind sie deshalb heute in ihrem | |
Garten in der Cité Aubry geblieben. Alle dort sind einstige | |
Nuit-Debout-Aktivisten. | |
„Wer auf der Straße ist, hat keine Zeit für die politische Arbeit“, sagt | |
Toledano. Viele Initiativen seien aus der Bewegung hervorgegangen, hätten | |
Grundstücke und Häuser besetzt. „Wir zielen nicht mehr auf die | |
Institutionen. Die Lösung kommt nicht von den Politikern. Wir wollen die | |
Dinge im Kleinen selbst machen“, sagt sie. Ihre Revolte findet nun im | |
Schrebergarten statt. | |
Sind sie Antikapitalisten? Sie schauen sich an. „Kapitalismus“, sagt | |
Youssoufou dann, „mit dem Wort kann ich nichts anfangen.“ Die beiden | |
betreiben eine PR-Agentur für Social Media Marketing. „Sind wir nicht | |
irgendwie auch Kapitalisten?“ | |
Was genau ist das Problem, für das die Politiker keine Lösung haben? | |
Youssoufou denkt nach. „Die EU-Bürokratie zum Beispiel“, sagt er dann. Er | |
sei „proeuropäisch, ein Internationalist“, aber er habe „was gegen die | |
Lobby“. „Ich hasse die technokratische Bürokratie, die sind mein Problem.�… | |
Toledano: „Die soziale Ungleichheit ist das Problem. Die Reichen werden | |
immer reicher.“ | |
Bräuchte man da nicht einen Staat, der umverteilt? | |
„Alle, die im Staat etwas zu sagen haben, waren auf derselben Universität. | |
Sie saßen erst nebeneinander in der Schule, dann nebeneinander in der | |
Regierung. Und deshalb nehmen sie den Reichen auch nicht wirklich etwas | |
weg“, sagt Toledano. | |
Sie wollen nicht wählen, sagen sie, egal wer antritt. Auch nicht in der | |
zweiten Runde. | |
5 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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