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# taz.de -- EMtaz: Ein Abend in Paris: Fußball, Küsse und Nuit débout
> Die Place de la République ist Spielplatz verschiedenster Welten. Die EM
> ist wichtig. Aber wichtiger sind Proteste und Gedenken an Anschlagsopfer.
Bild: Fußball ist nicht alles
Paris taz | Fluctuat nec mergitur – Sie schwankt, aber sie sinkt nicht. So
lautet das Motto im Wappen von Paris und so heißt ein In-Café auf der Place
de la République im Osten der Stadt. Dort trifft sich „en terrasse“, wer
fünf Euro für einen Viertelliter Bier übrig und es nicht nötig hat, wie die
Punks ein paar Meter weiter, parterre zu lagern und die Halbe zu 1 Euro 47
im naheliegenden Supermarkt zu erbetteln.
An diesem Donnerstagabend des Brexitvotums stellt sich die République wie
ein Brennglas von Paris dar. Jener Platz wird bespielt von höchst
unterschiedlichen Welten einer Stadt, die gerade viel mit sich selbst,
ihrer Sperrigkeit und ihrer Leidensfähigkeit zu tun hat.
Es wird auf der République rasant zwischen Passanten und unorthodox Fußball
gespielt, es wird auch mal kurz geprügelt, man tanzt Swing zum
Ghettoblaster und raucht Riesenjoints, es gibt Gratismahlzeiten für
Bedürftige, es wird sich hemmungslos geküsst und an der Statue der Marianne
wird der Toten von Charlie Hebdo und des 13. Novembers gedacht. Lou hat
ihre Tochter beim Anschlag auf das Bataclan verloren – „ich komme jeden Tag
und schmelze die vielen Kerzenreste hier zu einer Flamme zusammen. Mein
Kind soll weiter leuchten. Paris auch.“
Ein fotokopierter Zettel an einem Baum heißt auf deutsch die EM-Fans
willkommen, „wir wollen ihnen nicht den Spaß verderben“, steht dort, „ab…
wir freuen uns, wenn sie sich für die schwierige Situation französischer
Arbeitnehmer interessieren.“ Daneben prangt das Logo der CGT, der
landesweit größten Gewerkschaft. Unweit davon hat Nuit debout, die soziale
Bewegung, die ihren Ursprung im Protest gegen das neue Arbeitsrecht hatte,
eine blauschwarzrote Fahne gehisst.
## Die Gesellschaft kapern
In ihrer gewollten Zerrissenheit erinnert letztere an eine Piratenflagge.
„Ja, das trifft es“, sagt Claire, die im Naturschutz arbeitet und Ende 20
ist, „wir wollen die Gesellschaft kapern, sie wach machen.“ Momentan sei
Nuit debout aber an einem kritischen Punkt angelangt – „wir diskutieren
fast täglich seit dem 31. März auf der République, aber jetzt geht den
Menschen die Puste aus.“
90 Arbeitsgruppen haben sich im Rahmen von Nuit debout gebildet, zu Themen
wie Ökologie und Stadtentwicklung, Mitbestimmung oder Frauenrechte
konferiert man auf dem Asphalt sitzend. Wer lieber steht, darf das auch:
„schließlich heißt debout ja aufrecht“, meint Robert und lacht.
Der Grundschullehrer attestiert der Bewegung, so wie sie jetzt
„basisdemokratisch, ja anarchisch funktioniert, ein relativ schnelles
Verfallsdatum“ – auch wenn er selbst in ihr aktiv ist. „Wir müssen uns
jetzt eine Form geben, die Nuit debout schlagkräftig macht. Die
ultrakapitalistische Gegenseite ist bestens organisiert. Darauf müssen wir
in organisierten Attacken antworten – verbal und im Besetzen symbolischer
Orte wie Banken oder Fabriken.“
Doch im Gegensatz zu Spanien sei es im partei- und gewerkschaftspolitisch
genau verteilten Frankreich extrem schwer eine neue, durchsetzungsfähige
Bewegung zu etablieren. Sabine, die sich gerade bei „Falafel debout“, einem
von Exilpalästinensern geführten Stand, ein Sandwich gekauft hat, nickt.
Und dann, als wir gerade mit der Krankenschwester ins Gespräch kommen
wollen, flitzt sie weg.
## Gegen Demo-Verbot
Am Metroeingang geht ein junger Mann zu Boden, umzingelt von der CRS, dem
Spezialkommando der Polizei. Sabine will ihm zu Hilfe kommen, die
Polizisten drängen sie ab. Der Mann hat ein Transparent dabei, er ist gegen
das Verbot einer großen Demo der Gewerkschaften, die am Nachmittag von der
Bastille durch die Stadt zur Place de la Nation laufen wollten. Bewilligt
wurde nur ein ultrakurzer Marsch gegen das geplante neue Arbeitsgesetz nahe
Bastille.
Wir waren wenige Stunden zuvor dort gewesen. Gegen die „manifs“, die Demos
französischer Gewerkschaftler, geht der DGB gerade noch als „Mein lieber
Herr Gesangsverein“ durch.
Obwohl, gesungen wird an der Bastille, bei der dieses Mal weitgehend
friedlichen Veranstaltung, auch und das vehement: Die Internationale, dazu
Schlachtrufe wie „Aux armes“ und „Revolution permanente“. Schwer
beeindruckend, wenn nur nicht das Catering auch hier unsolidarisch hohe
Preise verlangen würde.
Im Bistro Saint-Félicien ist das Bier angenehm günstig und Marc holt sich
am Tresen seine Schwimmbrille ab, die er dort gegen mögliche
Tränengaseinsätze der Polizei deponiert hatte.
„Bei den Taschenkontrollen vor den Demos sacken die die ein. Damit giltst
du als Randalierer.“ Marc nimmt einen Schluck Orangina, dann bezahlt er mit
seiner Kreditkarte. „Aber wer sind die wahren Randalierer in unserer
Gesellschaft? Das sind doch die Großkapitalisten!“
24 Jun 2016
## AUTOREN
Harriet Wolff
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