# taz.de -- Marc Augés Liebeserklärung an Bistros: Ein Moment der Trägheit | |
> Ein Pastis, eine „Le Monde“ und dazu eine Gauloise. Klischees können so | |
> glücklich machen – wie ein Pariser Bistro. | |
Bild: Die Pariser treffen sich lieber im Bistro als in der Wohung. Die sind mei… | |
„Die Geschichte ist uns auf den Fersen. Sie folgt uns wie ein Schatten, wie | |
der Tod“, schreibt der Anthropologe Marc Augé in seinem Buch „Orte und | |
Nicht-Orte“, das ihn auch in Deutschland bekannt gemacht hat. Wenn uns die | |
Geschichte vorantreibt, dann hat das etwas mit der Beschleunigung der Zeit | |
zu tun, die immer rasanter wird, weshalb selbst die historischen Ereignisse | |
immer mehr an Bedeutung verlieren. Kaum ist etwas an die Oberfläche der | |
medialen Wahrnehmung geschwemmt worden, ist es auch schon Geschichte. | |
Dieses Phänomen ist ein Problem anthropologischer Natur. Und als ob Marc | |
Augé sich nicht mit der Konstatierung des Problems abfinden wollte, scheint | |
er mit seinem neuen Buch „Das Pariser Bistro“ an etwas festhalten zu | |
wollen, das sich dem rasenden Verwehen der Zeit entgegenstellt, resistent | |
ist durch den Alltag der Leute, die mit ihren Gewohnheiten und täglichen | |
Ritualen ein Moment der Trägheit sind. | |
Denn das Bistro ist ein Ort, auf den die beschleunigte Entwicklung und die | |
Ereignisdichte keinen Zugriff hat und der sich in einer Art Parallelwelt | |
befindet, eine Insel der Ruhe und der Glückseligkeit inmitten tosender | |
Wellen. Und deshalb ist das Buch vor allem ein melancholisches Buch. | |
Louis Aragon, der für Augé eine Referenzgröße darstellt, hat in seinem Werk | |
„Der Pariser Bauer“ beklagt, dass „das Gefühl für das Wunderbare des | |
Alltäglichen“ verloren geht und dass das „Leben wie auf einem immer besser | |
gepflasterten Weg voranschreitet“. Marc Augé versucht in seiner | |
„Liebeserklärung“, dieses Gefühl wiederzuentdecken. Dabei führt ihn die | |
Erinnerung an seine Jugend in den 50er Jahren zur Place Saint-Sulpice am | |
Café de la Mairie vorbei, wo André Breton saß und den Schüler vom Lycée | |
Louis-le-Grand schwer beeindruckte. | |
## Roland Barthes begegnen | |
Damals konnte man in den Cafés in Saint Germain noch Jean-Paul Sartre, | |
Simone de Beauvoir, Louis Althusser, Roland Barthes begegnen. Augé | |
beschwört diese Atmosphäre, auch wenn das Bistro als „irgendwo zwischen den | |
schlichtesten Troquets (kleinen Bars, in denen man trinkt) und den | |
kultiviertesten Cafés angesiedelt“ nicht der Ort ist, der die Sehnsucht der | |
Paristouristen immer wieder von Neuem anfacht, wie überhaupt „Bistro“ sich | |
eben alles Mögliche nennt und alles Mögliche sein kann, von einer | |
gewöhnlichen Bierkneipe bis zu einem gehobenen Restaurant. | |
Aber das „Bistro“ transportiert „eine unmittelbare Sympathie“, weshalb … | |
für Augé auf eine „allzu strenge Definition nicht ankommt“. Und tatsächl… | |
ist für Augé nicht entscheidend, was das Bistro ist, sondern wie es in | |
seinen Erinnerungen vorkommt und was es für seinen Alltag bedeutet. | |
Als während der Befreiung von Paris von überall Menschen herbeiströmen und | |
die vorrückenden Panzer umjubeln, da tauchen aus einem Bistro Weinflaschen | |
auf, das von Augés Eltern immer gemieden wurde, obwohl sie im selben Haus | |
wohnten. Vielleicht war das eine unbewusst prägende Erfahrung, in solchen | |
Orten mehr zu sehen als nur Anrüchiges. | |
Für Ernest Hemingway war das Bistro „ein behagliches, mitunter geselliges | |
Zuhause, ein Büro zum Arbeiten und ein Salon“, in dem er Gäste empfing. | |
Das Bistro ist also ein Ort für Gewohnheitstiere, ein Ort des | |
Noch-nicht-zu-Hause-Seins, aber auch des Nicht-mehr-unterwegs-Seins, ein | |
Ort, wo sich „Tragödie und Komödie“ vermischen, ein Ort „der | |
nichtssagenden Worte und des vielsagenden Schweigens, des lauten Lachens, | |
des unterdrückten Seufzers und der diffusen Melancholie“. | |
## Die Lust am Oberflächlichen | |
Das Bistro ist die ideale Umgebung für oberflächliche Beziehungen, nach | |
denen jeder Mensch ein Bedürfnis hat. Das Bistro enthält die Möglichkeit, | |
sich in eine Zeitung ebenso wie in ein Gespräch zu vertiefen, ohne dass man | |
sich deshalb verabreden muss, weshalb solche Gespräche oder vielleicht nur | |
kleine Wortwechsel etwas Spontanes, aber zugleich auch etwas Ritualisiertes | |
an sich haben. | |
In einer Welt, in der Großstadtmenschen sich während ihrer Arbeitspause | |
immer mehr den Restaurantketten anvertrauen, in denen sich schnell und | |
gedankenlos etwas hinunterschlingen lässt, entdeckt Augé die „paradoxe | |
Existenz der Bistros“ als etwas, was „als eine Form von Widerstand“ | |
betrachtet werden kann. „Sich an seinem Ort seine Zeit zu nehmen: Diese | |
Formel, die das Ideal des Pariser Bistros gut definiert, hat heute etwas | |
Provokantes.“ Ob sich in ihnen allerdings das Wunderbare des Alltäglichen | |
wiederentdecken lässt, das schon Louis Aragon suchte? | |
3 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus Bittermann | |
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