# taz.de -- Tour de France: Drama auf zwei Rädern | |
> Eine literarische Annäherung an einen großen Sport. Und an ein Spektakel, | |
> das darin zu bestehen scheint, junge Männer einfach plattzufahren. | |
Bild: Chris Froome verlohr sein Fahrrad und behielt trotzdem das gelbe Trikot | |
Sommer ist dann, wenn Menschen ihre Fahrräder wieder durch hübsche | |
Landschaften bewegen. Ein paar zwängen sich dazu in bunte Trikots, rasieren | |
sich die Beine und fahren quer durch Frankreich und seine Anrainerstaaten. | |
Klingt nach Rentnervergnügen, ist aber eher etwas für | |
wettbewerbsorientierte, junge Männer und nennt sich Tour de France (TdF). | |
Die TdF gilt als eines der beliebtesten und volksnahesten Sportereignisse. | |
Sie kommt zu den Menschen, die an Straßen stehen, welche die Namen der | |
Tourfavoriten schmücken, die mit Fahnen winken, in Teufelkostümen | |
herumhüpfen und angelüllte Nuckelflaschen fangen. | |
Darüber hinaus hat sie Eigenblutdoping noch vor dem Poptheoretiker Diedrich | |
Diederichsen bekannt gemacht. Fernsehkommentatoren leiern sich an | |
einundzwanzig Etappentagen über Stunden etwas aus den Rippen – zu | |
Ausreißergruppen, Zeitvorsprüngen, Höhenmetern, Hodenkrebs, verlorenen | |
Kontaktlinsen, Chateau, Rousseau, Pinot, Natur, Wetter und regionalen | |
Spezialitäten wie Absinth. Sie plaudern über kleine, leichte, arme, | |
frisierte, verheiratete, aber weniger über schwule Fahrer, denn die scheint | |
es im Spitzensport nicht zu geben. Ansonsten ist kein Thema zu privat, kein | |
Tweet, kein boulevardeskes Facebook-Posting der Fahrer zu intim. | |
Drei ganze Wochen, gut vier bis fünf Stunden, beinahe täglich, versucht man | |
Zuschauer, Sponsoren, die Sender und sich selbst bei Laune zu halten. | |
Eigentlich Zeit satt, um 2016 endlich einmal jeden der 198 angetretenen | |
Fahrer vernünftig vorzustellen. Da hinten fahren ja bekanntlich genauso | |
wehtut, wie vorn fahren (will man mal Jens Voigt zitieren, der die Tour bis | |
2014 mit 17 Mal so oft fuhr wie nur wenige), wäre es nur fair, doch einmal | |
jedem ein Gesicht zu geben, den sonst nur verspiegelte Brillen, Werbung und | |
Teamsponsorenschriftzüge zieren, auch wenn er keine Etappe für sich | |
entscheiden kann. | |
## Verlierer und Wasserträger | |
Denn was wäre die Tour ohne ihre spektakulären und weniger spektakulären | |
Verlierer und Wasserträger? Ohne die Herde, der ein paar Leitwölfe | |
davonsprinten, die auf den letzten Metern dann oft doch wieder von den | |
vielen eingeholt werden? Ohne das jungfräulich weiße Trikot, das an den | |
besten Jungprofi vergeben wird? Ohne die rote Rückennummer, die an die | |
kämpferischsten Fahrer geht, auch wenn alle dabei wissen: „Allein machen | |
sie dich ein“? Das wird Jahr für Jahr bei der Tour wieder sinnfällig: Man | |
braucht sich. | |
Tatsächlich lebt das Ereignis davon, dass es sowohl zeigt, wie Sieger | |
vorbereitet werden, als auch eigenmächtig durchstarten und ihren Fame für | |
ein paar Minuten auf dem Treppchen genießen, in Gelb (für den Führenden in | |
der Gesamtwertung), in Grün (für den Führenden in der Sprintwertung) oder | |
Rot gepunktet auf Weiß (für den Führenden der Bergwertung). Warum | |
allerdings immer zwei Blumenmädchen dazugehören, die Küsschen verteilen und | |
beim Ankleiden helfen, erschließt sich nicht unbedingt. Aber vielleicht ist | |
es nur die analoge Form eines auswahlbeschränkten Tinderns für Radprofis. | |
198 Fahrer sind angetreten, sich zu quälen und ihren Hintern besser zu | |
pflegen, als ihr Gesicht, um mal den gerade verstorbenen Rudi Altig zu | |
bemühen, jenen Bahn- und Straßenweltmeister, Urgestein des Radsports, der | |
laut eigener Aussage immer schlau genug war, Mittel zu nehmen, die ihm | |
niemand nachweisen konnte. | |
Überhaupt: Doping, es klebt diesem Sport an wie keinem anderen. Dabei sieht | |
doch alles so beschaulich aus, wenn das Peloton buntgescheckt durch | |
pittoreske Dörfer und malerische Départements rollt. | |
Wer je einmal seine eigenen Knochen radelnd bis auf Berlins einzige | |
wesentliche Erhebung, den Teufelsberg, gehievt hat, ahnt jedoch, dass | |
Etappen von mehr als 200 Kilometern mit ungezählten Höhenmetern bei schon | |
mal 13 Prozent Steigung so ein bisschen Mensch, selbst auf einem noch so | |
leichten und technisch hochgerüsteten Rad, komplett auszehren können, | |
besonders wenn das Pensum über Wochen beibehalten werden muss. | |
## Sport ist Mord | |
Wettkampfsport ist das dem eigentlichen Sinn nach nicht mehr, es hat schon | |
etwas von Fluchttreck. Genaugenommen ist also Doping eine Folge der viel zu | |
hohen Anforderungen an einen menschlichen Organismus, der Sport gern mal | |
auf Mord reimt. Und die Tour hat gezeigt, so abwegig ist der plötzlich | |
Tourtod nicht, denkt man an Tom Simpson und Marco Pantani, die wohl | |
bekanntesten Opfer. Und das Sterben junger Männer im Radsport geht weiter. | |
Im Frühjahr erlag der erst 22 Jahre alte Belgier Daan Myngheer während des | |
Rennens auf Korsika einem Herzstillstand. | |
Was also macht die TdF dennoch so beliebt, wenn ihre wesentliche Berufung | |
darin zu bestehen scheint, junge, gut gebaute Männer einfach plattzufahren? | |
Vielleicht genau das: das karthatische Erlebnis, welches Udo Bölts auf die | |
geflügelten Worte „Quäl dich, du Sau!“ brachte, die er seinem Teamkollegen | |
und Tourgewinner Jan Ullrich 1997 in den Vogesen meinte mitgeben zu müssen. | |
Roboten bis zur vollkommenen körperlichen und psychischen Erschöpfung. Kein | |
Sport verkörpert den Spätkapitalismus so gut wie der Radsport. | |
Aber dennoch scheinen ausgerechnet dort die Zeiten mehr und mehr vorbei, wo | |
man sich kopflos in Abfahrten stürzte und ohne Rücksicht auf | |
gesundheitliche Verluste mit Substanzen vollpumpte. | |
Seit 2004 fährt man, weniger selbstmörderisch, mit Helm, und 2016 gibt es | |
auch immer weniger Ausreißergruppen. Man bleibt zusammen bis kurz vorm | |
Ziel, spendet sich Windschatten und Sagan, der schlagfertige Slowake – erst | |
in Gelb, dann in Grün – erklärt lieber gleich jeden für hirnlos, der sein | |
eigenes Leben und das der anderen gefährdet. Der zweimalige Toursieger, | |
Favorit und im Gesamtklassement weit vorn liegende Froome ließ sich das | |
gesagt sein bei der zwölften Etappe zum Mont Ventoux und stieg sogleich | |
aufs gefahrlosere Joggen um. | |
Die Etappe war vor allem durch die schlechte Vorbereitung der Veranstalter | |
gekennzeichnet, welche den Zieleinlauf um sechs Kilometer verkürzten, wegen | |
der starken Winde. Aber es standen am neuen Ziel nicht genug Absperrgitter | |
bereit, so dass das Publikum die Fahrer regelrecht vom Rad holte. Es kam | |
zur Karambolage mit einem Motorrad, ein Wagen fuhr noch auf, Froomes Rahmen | |
ging zu Bruch, und er begann einen Kilometer vor Zielankunft völlig radlos | |
loszulaufen. Zwar muss ein Fahrer laut Reglement mit Fahrrad starten und | |
mit Fahrrad ins Ziel kommen, selbst wenn dies beschädigt ist, aber was | |
dazwischen passiert, ist nicht eindeutig geklärt. | |
## Notfalls einfach laufen | |
„Ein Rad für ihn, ein Rad für den Mann im Gelben Trikot! Das muss doch viel | |
schneller gehen!“, wird verzweifelt vom Live-Reporter der ARD gefordert und | |
war nicht so schnell aufzutreiben, so nahm er zunächst die Beine in die | |
Hand und so hat auch diese Tour ihre Legende bereits geschrieben: „Schauen | |
Sie sich das an, was für ein Drama! Er läuft den Berg nach oben! Wo ist ein | |
Rad? So was haben wir noch nie gesehen! … Das ist unfassbar, das ist | |
ungesehen, das ist nie erlebt, was sich heute hier am Anstieg zum Mont | |
Ventoux abspielt!“ | |
Froome bekam noch ein Rad und behielt das Gelbe Trikot, genau genommen | |
testete er noch zwei Räder bis zum Ziel und wurde so vom Herausforderer, | |
dem abgeschlagenen Quintana, überholt, unserem Mann aus Kolumbien, neben | |
Pantano, der überraschend die fünfzehnte Etappe gewann und bei der | |
siebzehnten in den Alpen zweiter wurde hinter dem Russen Sakarin. | |
Majka aus Polen verteidigt sein Bergtrikot bislang tapfer. Cavendish steigt | |
in den Alpen mit vier Etappensiegen aus. Kittel holt sich seinen ersten und | |
ärgert sich über Cavendish nicht zu unrecht, der ihn mit einem Schlenker | |
aussticht, und Greipel, der wirklich schon mehrfach im Fokus der Zielkamera | |
war, hatte bislang das Nachsehen, ganz zu schweigen von Degenkolb. | |
Noch sind 179 Fahrer dabei, noch ist es ein Stück bis Paris und dann liegen | |
die Alpen hinter ihnen. | |
Jérôme Cousin, mein kämpferischer Held von der zehnten Etappe der TdF auf | |
Korsika 2013, der auch schon einmal Ohrringe zu einem gewinnenden Lächeln | |
trägt, oder bei Facebook einen Amethystpython auf seinen Schultern und der | |
Robert Smith Backstage besucht, wird vermutlich am Sonntag nicht viel mehr | |
als eine Helmkamera in diesem Jahr getragen haben und hoffentlich heil sein | |
Ziel erreichen. Wie all die anderen, die mal wieder zu erwähnen vergessen | |
wurden und die nun einige Kilos leichter und einige Blessuren reicher sind. | |
Und doch werden auch sie irgendwo bei einem Berganstieg ihren Namen gehört | |
oder gelesen und Gänsehaut bekommen haben. Und vielleicht summt der ein | |
oder andere von ihnen abends vorm Schlafengehen The Cure, „A Forest“: „I�… | |
running towards nothing / Again and again and again and again.“ | |
Wir sehen uns wieder, nächsten Sommer. Au revoir mes amis cyclistes! | |
23 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Sabine Scho | |
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