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# taz.de -- Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Wie eine Horde Patronymhörnchen
> Fußball gucken unter Isländern, Pferdewetten unter Deutschlandfahnen und
> die ehrlichere Begründung, bei der EM gegen sein Heimatland zu sein.
Bild: Stell dir vor es ist Hymne und alle stehen auf. Das muss ein Island-Spiel…
Weil das Wetter am Samstag scheiße ist, habe ich keine Deutschlandfahne im
Gesicht. Sonst wäre ich mit S. zu einer Geburtstagsparty am Möllensee
mitgekommen, hätte dort auf einem Campingplatz Deutschland gegen Italien
geschaut, und sie hätten mir Schwarz, Rot und Gelb auf die Wangen
geschmiert. Widerstand, sagt S. mir später, wäre bei den Brandenburger
Dauercampern eventuell nicht so gut angekommen.
Stattdessen gucke ich das Spiel mit M. und J. im Tante Emma am Schlesischen
Tor, knapp 50 Meter entfernt von der Stelle, wo ich bei der Niederlage
gegen Italien 2006 saß, beim Burgermeister nämlich und verdammt, den gibt
es also jetzt auch schon seit zehn Jahren. Krass. Die Italiener auf der
Bierbank vor uns demonstrieren schon in den ersten Spielminuten, wie ein
flexibles Umstellen von Dreier- auf Fünferkette und zurück funktioniert,
das erfordert viel Verschieben bei uns, um die freien Sichträume zu nutzen.
In der Halbzeit meldet der Möllensee Vuvuzela-Einsatz, und ich entdecke
eine mannshohe Hanfpflanze bei einem kurzen Abstecher zur Spree. Mesut
Özils 1:0 hingegen verpasse ich fast durch einen meiner zahlreichen
Toilettengänge, meine Blase ist „noch nicht bei dieser EM angekommen“, wo
ich allerdings auch ein Plakat mit dem tollsten Kontrastprogramm zum Spiel
sehe: das am gleichen Abend laufende Konzert von Hanns-Martin Slayer im
Monarch.
Als Italien das 1:1 macht, wird der Junggesellinnenabschied neben uns
garstig. Eine von ihnen, mit Schlandblumenkette im Haar, ruft den
Italienern vor uns zu: „Dann geht doch woanders hin!“ Sie ist der Typ
Eventfan, den ich am meisten hasse: komplett ahnungslose Parteilichkeit bei
sämtlichen Schiedsrichterentscheidungen, Verletzungen etc., die dafür umso
lauter vorgetragen wird. Ich denke darüber nach, warum ich eigentlich gegen
Deutschland bin. Ist das überhaupt ein antinationaler Reflex bei mir? Oder
liegt es nur daran, dass ich locker 90 Prozent der Menschen für Trottel
halte und wohl in jedem Land für die anderen wäre – außer, es gäbe eine
Nationalmannschaft von Oldenburg.
Aber egal, für Italien wäre ich auch ohne Deutschland, ich liebe das Team,
diese GRANDEZZA! Ihr Aus im Elfmeterschießen, der weinende Gianluigi
Buffon, der feixende Junggesellinenabschied, die Autokorsosprengsel, es ist
kein schöner Abend. Als S. nachts vom Möllensee nach Hause kommt, ist das
Gelbe ihrer Deutschlandfahne schon verblasst. Immerhin.
## Um einen kurzen Kopf am Wettcash vorbei
Der Ausgleichssport am Sonntagnachmittag heißt Trabreiten, und weil sich
einige schon gefragt haben, wo bei dieser EM die Deutschlandflaggen an
Autos und Häusern geblieben sind: Die hängen alle in Mariendorf. Es steht
allerdings zu befürchten, dass sie das auch zwischen den Turnieren tun.
Die Trabrennbahnnovizen S., M. und J. sind sofort [1][angefixt vom
Wettwahnsinn] dort, aber abgecasht wird ohne uns. Die Pferde performen wie
Spanien bei der EM: Sie starten gut und bauen hinten raus stark ab. Einmal
stehe ich kurz vorm Jackpot, mit einer Zweier-Einlaufwette, doch Mister Bi
schiebt sich im Fotofinish noch einen „kurzen Kopf“ vor Montecore Mo.
Bleibt als Trost die Freude über die Namen in den Starterlisten: Gameboy
Newport, Candyman Hornline, Calvados Chess, Fantasia Newport, I’m Chilly
Chicken.
Apropos Freude über alberne Namen: Abends schauen S. und ich dann Island.
Unter Islandfans. Also mit gefühlt der gesamten Berliner
Island-Expat-Community, der Botschafter ist auch gekommen. Vor dem Spiel im
11-Freunde-EM-Quartier gibt es ein Kulturprogramm, das an ein
Oberstufenkonzert erinnert: Junge Menschen gniedeln melancholische Lieder,
alle Ansagen sind konsequent auf Isländisch. Für die Nationalhymne sollen
wir dann alle aufstehen. So was gibt es nicht mal in Brandenburg. Und beim
Spiel stimmen die Isländer Sprechchöre, Gesänge und die „Uh!“-Rufkaskaden
an, dafür haben sie extra einen Eintrommler mitgebracht.
Vier französische Tore sorgen dafür, dass es recht schnell leiser wird. Ein
Segen, weil mich der Hype um die Isländer auch schon wieder total genervt
hat. Ach, sie kämpfen so tapfer, und schaut mal, die lustigen Namen, und
die Elfen und die Vulkane und „Siegtor“-sson, und leben dort wirklich nur
so viele Menschen wie in Bielefeld? Als würde eine Horde ostwestfälischer
Eichhörnchen mit Patronymen auf dem Platz stehen. Putzig, aber was soll ich
im Halbfinale einer Europameisterschaft damit? Dann doch lieber
Deutschland.
4 Jul 2016
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## AUTOREN
Michael Brake
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