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# taz.de -- Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Der Sound schmeckt blasshellgrün
> Kryptische Visuals beim Synästhesie-Festival, eine Lesung mit hohem
> Frauenanteil und Racletteaufklärung im Chagall. Ein Wochenendrückblick.
Bild: Tolles Licht, tolle Visuals, tolle Band: Rán beim Synästhesie-Festival
Das Räuberrad ist zurück! Okay, [1][schon seit zwei Monaten], aber ich sehe
es zum ersten Mal am Freitagabend, als ich die Rosa-Luxemburg-Straße
hochfahre, Richtung [2][Synästhesie], einem
Noise-Postpunk-Kraut-Psych-Garage-usw.-Festival. Das [3][war letztes Jahr
selbst noch in der Volksbühne], ohne Räuberrad, jetzt ist es am
zweitsterilsaniertesten Ort von ganz Prenzlauer Berg: der Kulturbrauerei.
Beim Festival bin ich vor allem wegen Camera. Um 19 Uhr sollen sie spielen,
um 19.02 Uhr huschen viele Leute geschäftig über die Bühne und machen
Soundcheck, ein Typ schwenkt Weihrauch, ein anderer hampelt mit einem
Minisaxofon herum.
Camera hatte ich vor rund sieben Jahren an der Warschauer Straße
liebengelernt, drei sehr junge Männer, die in einer U-Bahn-Unterführung
eine irre wuchtige Krautrocksoundwand gebaut haben. Inzwischen ist aus
diesem minimalistischen Guerillakonzept ein größeres Ensemble geworden, der
Auftritt wirkt eher wie ein 60er-Jahre-Happening. Die Musik ist aber noch
ungefähr die gleiche und der Soundcheck war gar keiner, sondern schon das
Konzert, das unterbrechungslos eine gute Stunde durchläuft – und emotional
leider nicht so recht zu mir vordringt. Erst am nächsten Tag verstehe ich,
dass der Sound im Kesselhaus schlichtweg mies ist. Breiig, nicht
raumfüllend oder, im Sinne des Synästhesie-Festivals: er schmeckt
bestenfalls blasshellgrün.
Am Freitagabend muss ich aber schon wieder los, zur Kolumnenbuch-Lesung von
M., und zwar an den allersterilsaniertesten Ort in Prenzlauer Berg, in die
Backfabrik und dort in einen Keller namens „Clinkerlounge“ (das C macht
mich so aggressiv!). Auf einen Mann kommen hier circa neun Frauen und der
Abend ist ein Selbstläufer: Alle wissen, warum sie da sind, und M. liefert
verlässlich ab. Es wird gelacht über [4][Arbeitskleidung im Baumarkt],
[5][trottelige Online-Trolle], [6][Jens Jessen] und [7][Pimmelwitze] (also
nicht über die Witze, sondern ihre Existenz). Und am Ende, beim Q+A, werden
wirklich Fragen gestellt, kein „Well, it’s actually more of a
comment“-Gedödel. Ein Segen.
Später sind wir dann noch im „Chagall“, wo es nach russischem Glühwein
riecht und alle Gäste gleich aussehen. Eine Schweizer Musikerin ist auch
mit, sie erzählt auf eine Art, dass ich ihr sehr gern zuhöre, von einem
Carsten, der eine Art mobilen Mikrofonverleih macht, sodass sie jetzt auch
in ihrer Küche so gut wie im Studio aufnehmen kann (wie nervig es bitte
wäre, wenn ich meine Texte zu Hause nur grob vorschreiben könnte und dann
müsste ich immer noch in ein Textstudio fahren, um sie in Zeitungsqualität
abzutippen, weil es nur da alle Buchstaben gibt oder so), und davon, wie
Schweizer Heim-Raclette machen, nämlich nicht so mit albernen Pfännchen,
der Käse kommt im Stück in eine amtliche Raclettemaschine. Es klingt sehr
gut.
Am zweiten Tag des Synästhesie-Festivals gibt es unter anderem
Cafeteria-Synth-Punk von Frauen in silbernen Space-Anzügen (Gym Tonic),
Psychedelic Rock von etwas zu gut gelaunten Gerade-aus-dem-College-Boys
(Blac Rabbit), eine Band mit Cello und goth-artigem Gesang, bei dem auch
mal metals horns im Publikum zu sehen sind (The Blue Angel Lounge) und,
mein persönliches Highlight: [8][Rán]. Die machen irgendwas, das treibend,
düster, wuchtig, melodisch, rau, arschcool zugleich ist und spielen zum
Glück im kleineren Raum, der auch genug Soundfülle hat.
Die restliche Musik holt mich, nun ja, eher mittelgut ab. Viel besser, und
es ist ja ein Synästhesie-Festival, ist der visuelle Teil, Videos, Licht,
Nebel, Stroboskop, all das sitzt. Nur einmal, es ist graues Schneegegrissel
und eine Sanduhr zu sehen, weiß ich nicht: Ist das jetzt Konzeptkunst oder
ist der Beamer ausgefallen?
Als ich nach Hause komme, hängt ein Zettel im Flur. Die riesige alte
Kastanie im Innenhof ist krank und muss leider gefällt werden. „Leider“
steht da wirklich und dieses Wort inmitten des Technokraten-Speak unserer
Hausverwaltung zu lesen, rührt mich irgendwie. Das Räuberrad wieder da, die
Kastanie bald weg. Es ist kein guter Tausch.
26 Nov 2018
## LINKS
[1] /!5534808/
[2] https://www.8mmmusik.com/synfest/
[3] /!5460802/
[4] /!5081688/
[5] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/hass-im-netz-brief-an-den-unbekan…
[6] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/jens-jessen-reichsbuerger-der-met…
[7] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/weg-mit-den-pimmelwitzen-kolumne-…
[8] https://ran-berlin.bandcamp.com/
## AUTOREN
Michael Brake
## TAGS
Ausgehen und Rumstehen
Franz Schubert
Techno
Ausgehen und Rumstehen
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