Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Keine Zeit für Dystopien
> Während in einer Galerie über die Zukunft diskutiert wird, wird sie auf
> dem „3hd“-Festival live erprobt. Im Club sind dann alle in der Gegenwart
> vereint.
Bild: Kann Clubmusik Protest ausdrücken? Taz-Kolumnistin Yaghoobifarah, US-Pro…
An dem Tag, an dem ein alter murmelnder Musiker einen hoch dotierten
Nostalgiepreis bekommt, denken einige Verrückte in der überfüllten Galerie
des Spike-Magazins über die Zukunft nach: Wann immer etwas Neues entsteht,
wird versucht, es anhand von Kriterien zu verstehen, die wir bereits
kennen. Es wird zu einer Art Hybrid aus bekannten Elementen – und bleibt
damit in alten Kategorien gefangen. Neue Begriffe sind notwendig, mit denen
das Neue seinen Platz in der Welt findet.
„The New Normal“ nennt Benjamin Bratton sein Konzept für eine exaktere
Beschreibung der neuen Realitätsschichten und Souveränitäten, die ja längst
nicht mehr nur staatlich, sondern auch von Google und Facebook produziert
werden. Um die Welt besser zu verstehen, muss sie neu kartiert werden, sagt
der in San Diego lehrende Professor für Designtheorie und sonnt sich im
Neonlicht des White Room.
In der Diskussion beruhigt er diabolisch lächelnd eine junge Frau, die
besorgt ist, dass die Forschung an künstlicher Intelligenz in die Hände
böser Mächte geraten könnte. Ja, das sei durchaus möglich. Aber, so
Brattons, an Kritischer Theorie geschulter Punchline: Die Erfindung einer
neuen Technologie produziert zugleich immer einen Unfall.
## Wie klingt Protestmusik?
Man könnte annehmen, das neue heiße Diskursding aus Kalifornien ist ein
Theoriehype. Aber in Zeiten, in denen sehr viele die Welt am liebsten in
Ruinen sehen würden, ist die Veranstaltung doch eher Zeichen dafür, dass
die Generation X aka Y aka Brexit eigentlich ziemlich politisch ist und
Wege sucht, sich nicht mehr von den Klagegesängen des Establishments
sedieren zu lassen. Den meisten, selbst denen, deren Hemdkrägen sich
anbiedernd über Wollpullunder legen, ist anzusehen, dass sie etwas bewegen
wollen. Was am besten funktioniert, wenn man die Welt besser versteht.
Auch auf das Panel „Sound of Protest“ des [1][„3hd“-Festivals] am Freit…
in der „Vierten Welt“ sind Viele gekommen, die etwas wissen wollen – über
sich, die Welt, und wie man sie verändern könnte. Mit dem Unterschied, dass
Brattons Konzept hier nur bedingt passt. Weil Musik ja nie normal ist und
sich festen Kategorien entzieht.
„Ambiguität ist ihre größte Stärke“, sagt der Musikkritiker Adam Harper…
spielt den, im Gegensatz zum enthusiastisch-interaktiven Publikum in Mitte,
eher nihilistisch wirkenden Menschen einen Track von [2][Elysa Crampton]
vor, in dem ein unheimliches Lach-Sample verwendet wird. Lachen, so Harper,
sei so ambivalent wie Musik. Es kann Ausdruck von Euphorie, aber auch von
Schadenfreude oder Verzweiflung sein. Eigentlich hat Harper genug von
musikalischen Dystopien, sei doch die Wirklichkeit apokalyptisch genug.
## Get fucked up
Auf der „3hd“-Aftershowparty im Ohm am Samstag will dann niemand mehr etwas
wissen. Alle wollen nur noch tanzen. Endlich darf auch der Körper denken.
Erschütternde Bässe treffen auf überdreht-schnelle Breakbeats, als gäbe es
keine Zeit zu verlieren, während Vocalsamples atemlos auf jede Zählzeit
Dringlichkeiten vorschlagen wie: „get fucked up“ oder „shake it fast“. …
dann die New Yorkerin [3][Uniiqu3] mit ihren unerwarteten Tempiwechseln die
angenehm diverse Crowd in geschlechtslose Maschinen verwandelt, habe ich
kurz das Gefühl, ihn zu hören, den Sound des Protests.
Nicht, weil sie wie die schönen, aber verbrauchten Songs des alten Mannes
im Anzug Außenseiter-Storys erzählen, nein, weil sie es schafft, Menschen
mit unterschiedlichen Interessen, aber gleichen Visionen zusammenzubringen.
Es ist dieses Gemeinschaftsgefühl, eine „neue multiethnische und
multilokale Normalität“ jenseits von Sprache und Nation, das wir benötigen,
um diese xenophobe Gesellschaft zu überwinden. Und das hier ist der
perfekte Ort für dessen Erprobung.
19 Oct 2016
## LINKS
[1] http://www.3hd-festival.com/
[2] https://soundcloud.com/eande
[3] https://soundcloud.com/uniiqu3
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Ausgehen und Rumstehen
Clubkultur
Musik
Bob Dylan
Refugees
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
Ausgehen und Rumstehen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Aufmerksamkeitsschaben
Tanzen für Geflüchtete, konzentriertes Zuhören und die Suche nach dem
Jetzt: Unterwegs im Berliner Nacht- und Tagleben.
Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Gegen die Welt, aber mittendrin
Heiner Geißler disst die CSU und Angela Merkel zitiert Rio Reiser. Und zu
Fencheltee und Wärmflasche gibt es YouTube-Videos der Buzzcocks.
Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Wie eine Horde Patronymhörnchen
Fußball gucken unter Isländern, Pferdewetten unter Deutschlandfahnen und
die ehrlichere Begründung, bei der EM gegen sein Heimatland zu sein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.