# taz.de -- Stichwahl in Rom: Zurückhaltung punktet | |
> „Rom ist am Boden“, sagen die Leute. Am Sonntag entscheidet sich, wer in | |
> Zukunft die Hauptstadt regiert. Eine Frau hat die besten Chancen. | |
Bild: Virginia Raggi am 6. Juni in Rom. Im ersten Wahlgang erhielt sie 35 Proze… | |
Rom taz | Verdattert schaut der alte Herr unter seinem Käppi hervor. Gerade | |
hat er es sich mit ein paar Kumpanen an einem Klapptisch in der Ecke des | |
kleinen Platzes bequem gemacht, um eine Runde Karten zu spielen. Plötzlich | |
drängen Dutzende Menschen von der anderen Straßenseite auf den Platz, | |
einige bauen sich direkt vor der Seniorenrunde auf. | |
Doch als klar wird, wer den kleinen Auflauf verursacht hat, hellen sich die | |
Züge des Mannes auf: Virginia Raggi, Bürgermeisterkandidatin in Rom, ist | |
offensichtlich auch seine Favoritin bei der Stichwahl um das | |
Bürgermeisteramt in Rom am kommenden Sonntag. | |
Müde ist das Gesicht der 37-Jährigen nach zwei Monaten Wahlkampf, und doch | |
wirkt sie gut gelaunt. Lächelnd quittiert sie den Beifall ihrer Anhänger, | |
für die sie sich zu einer letzten Runde durch Roms Stadtrandviertel | |
aufgemacht hat, drei Auftritte in zwei Stunden. Sensationelle 35 Prozent | |
der Stimmen hat die Politikerin der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento Cinque | |
Stelle, kurz M5S) im ersten Wahlgang am 5. Juni eingefahren, 10 Prozent | |
mehr als der Zweitplatzierte, der Vertreter des gemäßigt linken Partito | |
Democratico (PD) des Ministerpräsidenten Matteo Renzi. „Am Sonntag wird | |
abgerechnet“, ruft Raggi ins Megaphon, „am Sonntag werden wir sehen, ob die | |
Römer den Wechsel wollen.“ | |
Rom, eine „Trümmerlandschaft“, gezeichnet von „konstantem fortschreitend… | |
Niedergang“ in den letzten 20 Jahren, so charakterisiert die Politikerin in | |
ihrer kleinen Ansprache die Stadt. Kein einziger Sektor der öffentlichen | |
Verwaltung, der öffentlichen Dienstleistungen sei wirklich funktionsfähig. | |
Es ist später Nachmittag, wohl 200 Menschen haben sich eingefunden, | |
Aktivisten der Bewegung genauso wie Bürger aus dem Viertel, die neugierig | |
auf die Kandidatin sind. So schneidend ihre Kritik ist, so leise bleibt der | |
Ton der Rechtsanwältin, die argumentiert, als sei sie in einer | |
Gerichtsverhandlung. Bei ihren Fans kommt ihr Plädoyer an, im Publikum | |
flüstert ein junger Mann seiner Freundin zu, „Virginia ist eine von uns, | |
eben keine Berufspolitikerin“. | |
## Keine Krawallschachtel wie Grillo | |
Schluss mit der „Kaste der Berufspolitiker“: Dies war und ist auch die | |
zentrale Botschaft der vom Komiker Beppe Grillo gegründeten | |
Fünf-Sterne-Bewegung. Vor drei Jahren trat der M5S zum ersten Mal überhaupt | |
bei nationalen Wahlen an, holte aus dem Stand 25 Prozent und macht seither | |
im Parlament Fundamentalopposition. Mit der smarten Virginia Raggi haben | |
die Fünf Sterne – die bei den Kommunalwahlen 2013 in Rom bloß 12 Prozent | |
erhielten – jetzt eine realistische Chance, in der 3-Millionen-Metropole | |
das Bürgermeisteramt zu erobern. Und erstmals würde dann eine Frau die | |
Stadt regieren. | |
Ihre Bewegung, der M5S, ist von vielen schnell als populistisch etikettiert | |
worden – was sich auch der One-Man-Show der Krawallschachtel Beppe Grillo | |
verdankt. Virginia Raggi scheint ihre Wahlkampftour darauf angelegt zu | |
haben, dieses Bild nach Kräften zu widerlegen. | |
Parteigründer Grillo gibt sich bei seinen Auftritten als Rumpelstilzchen, | |
das wetternd und tobend seine Botschaften von der Bühne schreit, Raggi | |
spricht leise, ruhig. Grillo bietet seinen Zuschauern ausufernde Vorträge, | |
Raggi belässt es auch an diesem Nachmittag bei einer knappen Rede. Grillo | |
inszeniert sich mit seinem wilden grauen Lockenkopf als Bürgerschreck, | |
Raggi ist die sympathische, wenn auch etwas reserviert wirkende junge Frau | |
von nebenan. | |
## Sie hält Abstand zur Menge | |
Jeans, gestreiftes Shirt, weiße Leinenjacke – adrett, aber nicht | |
aufgetakelt präsentiert sich die Kandidatin. Dutzende Hände muss sie | |
schütteln, geduldig posiert sie für Selfies, doch man merkt ihr an, dass | |
sie das Bad in der Menge nicht sucht. Und bei ihrer Ansprache sucht sie | |
auch nicht den schnellen Applaus, der mit mehr oder weniger populistischen | |
Wahlkampfversprechen zu haben wäre. | |
Geringere Kommunalsteuern? Gratisjahreskarten in Bus und Bahn für alle über | |
70-jährigen Römer, wie sie Raggis Gegenkandidat Roberto Giachetti von der | |
PD in Aussicht stellt? Sie zuckt die Schultern, auf ihren Lippen ein leicht | |
sarkastisches Lächeln. „Das könnten wir natürlich auch einfach versprechen, | |
aber wir tun es nicht, das ist doch armselig“, kontert sie in ihrer Rede. | |
„Rom hat einen Schuldenberg von mehr als 14 Milliarden Euro, wir müssen | |
zuerst die Stadt sanieren, die Kredite neu verhandeln, um die Zinslast zu | |
reduzieren, die kommunalen Betriebe von der Müllabfuhr bis zum öffentlichen | |
Nahverkehr wieder ans Laufen bringen.“ Spitz fügt sie hinzu, die PD habe | |
doch in den letzten Jahren auf allen politischen Ebenen die Macht gehabt, | |
von der nationalen Regierung über die Region bis zur Kommune und den | |
Stadtbezirken, und damit die Chance, „alles das zu verwirklichen, was sie | |
jetzt verspricht“. | |
## Transparenz und nochmal Transparenz | |
Damit trifft Virginia, wie sie hier auf dem Platz alle nennen, den Nerv | |
ihrer Zuhörer. Gewiss, das Viertel Quarto Miglio draußen an der Via Appia | |
ist keine öde Schlafstadt wie so viele Randbezirke Roms. Freundliche | |
zweistöckige Häuser, Vorgärten, hohe Pinien prägen das Bild. „Aber gleich | |
hier um die Ecke“, meint ein füllige ältere Dame, „da stapelt sich der M�… | |
rund um die Tonnen.“ Immer dreckiger sei die Stadt, klagt sie, die Busse | |
alt und klapprig, die Straßen Schlaglochpisten. „Und wir zahlen die | |
höchsten kommunalen Steueraufschläge in ganz Italien!“, bricht es aus ihr | |
heraus, „Rom ist am Boden, und unsere korrupten Politiker haben sich die | |
Taschen gefüllt.“ | |
Eine transparente Verwaltung im Dienst der Römer, „Institutionen, die wir | |
Bürger uns zurückholen“ – dies ist das einzige Wahlkampfversprechen, zu d… | |
Virginia Raggi sich hinreißen lässt. Und wieder holt sie aus gegen die | |
traditionellen Parteien, allen voran die PD: „Der ‚Mafia-Capitale‘-Skandal | |
hat doch gezeigt, wie sie arbeiten – für ihre Interessen, nicht für uns!“ | |
## Hauptstadt der Korruption | |
Mafia Capitale – dieser Begriff steht für ein gigantisches Netzwerk aus | |
Kommunalpolitikern der Rechten wie auch der PD, das im Verein mit einem | |
mafiösen Gangstersyndikat im großen Stil öffentliche Aufträge verschob. | |
Roms Staatsanwaltschaft ermittelt seit anderthalb Jahren gegen Dutzende | |
Beteiligte, diverse Lokalgrößen, auch der PD, wurden in Haft genommen. | |
Miserable städtische Dienstleistungen, aufgeblähte teure Apparate, ohne | |
dass die Bürger davon profitieren: Diese Krisendiagnose ist in Rom | |
Allgemeingut quer durch alle politischen Lager, und alle versprachen im | |
Wahlkampf die Wende. Doch was ihre Glaubwürdigkeit angeht, genießen der M5S | |
und seine Frontfrau Raggi vergleichsweise einen enormen Vorsprung. | |
Zum Heulen sei ihm bei dem Gedanken, wie heruntergewirtschaftet Rom sei, | |
sagt Fabio – „wo es doch eigentlich die schönste Stadt der Welt ist“. Der | |
athletische Mittvierziger schiebt seine Sonnenbrille hoch auf den | |
markanten, kahlrasierten Schädel. Von sich erzählt er, dass er als | |
Angestellter in einem kleinen Unternehmen sein Geld verdient und früher bei | |
der Rechten aktiv war. „Aber auch da herrscht bloß Korruption.“ | |
## Ja kein falscher Optimismus | |
Für Fabio sind die Fünf Sterne die einzige politische Kraft, die auf die | |
Partizipation der Bürger setzt. Den Vorwurf, im M5S seien die | |
Entscheidungsstrukturen doch auch einigermaßen intransparent, wischt er | |
beiseite. „Wer so über uns redet, ist ignorant“, sag er. „Wir sind in den | |
Stadtteilen in lauter kleinen Gruppen organisiert, da findet Dialog statt, | |
da kommen die Probleme auf den Tisch, wir suchen nach Lösungen.“ | |
Als alte Kommunistin outet sich dagegen Maria Luisa, die ihr kurzes Haar | |
pechschwarz gefärbt hat. Alle duzen sich hier auf dem Platz. An die 80 mag | |
sie sein, und sie erinnert sich gut an die Zeiten in den 1960er Jahren, als | |
sie Vorsitzende einer kommunalen Stiftung war. „Von uns Kommunisten hat | |
früher keiner auch nur einen Cent in die eigene Tasche gesteckt“, empört | |
sie sich. Maria Luisa organisiert jetzt kleine M5S-Diskussionsrunden zu | |
Hause bei sich im Wohnzimmer, sie hofft auf den „radikalen Wandel“, darauf, | |
dass die Politik wieder „ehrlich und sauber“ wird. | |
Die große Frage ist, ob das reicht; schließlich müsste Raggi das Wunder | |
vollbringen, mit ebenjener Stadtverwaltung den Neustart hinzubekommen, die | |
mit ihren Verkrustungen, ihrer Klientelwirtschaft, ihren fast täglich in | |
den Zeitungen zu lesenden Korruptionsskandalen als Hauptursache für den | |
desaströsen Zustand Roms gilt. | |
Raggis Publikum in Quarto Miglio ist ein Querschnitt durch die römische | |
Bevölkerung. Rentner, junge Paare, Angestellte, Kleinhändler, eine | |
Kindergärtnerin hat sich in eine M5S-Fahne gehüllt. „Was uns zusammenhält? | |
Dass wir der Dinge überdrüssig sind, dass wir nicht mehr mit falschem | |
Optimismus verarscht werden wollen“, meint einer von ihnen, der sich als | |
Averardo vorstellt. Früher arbeitete der Rentner in einer Bank, damals | |
wählte er links – „Aber die Linke ist doch faktisch verschwunden“, bemer… | |
Averardo. „Verliebt“ hat er sich in die 5-Sterne-Bewegung, schon seit vier | |
Jahren ist er selbst aktiv dabei, „das sind halt Jungs und Mädchen, keine | |
Politiker“. | |
Averardo hat sich nah an seine Kandidatin herangearbeitet, er steht nur | |
wenige Meter weit von ihr entfernt. Begeistert schaut er zu ihr hinüber und | |
klatscht, als sie verspricht, dass „jeder einzelne Euro aus dem städtischen | |
Haushalt auf den Prüfstand kommt“ und städtische Aufträge in Zukunft | |
transparent ausgeschrieben werden. Für ihn ist bereits klar, dass Virginia | |
Raggi die Wahl gewinnen wird. | |
18 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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