| # taz.de -- Lilian Thuram über die Euro16: „Die Multikulti-Erzählung ist Qu… | |
| > Der Weltmeister von 1998 kämpft für Chancengleichheit und gegen | |
| > Rassismus. Er warnt vor Heilserwartungen an den Fußball. | |
| Bild: Lilian Thuram ist einer der wenigen Fußballspieler, die sich politisch e… | |
| Es war das verrückteste Spiel seines Lebens. Lilian Thuram war der | |
| Hauptdarsteller beim 2:1-Erfolg der französischen Nationalmannschaft am 8. | |
| Juli 1998 gegen Kroatien im Stade de France von St. Denis. Das Finale der | |
| Fußball-WM war erreicht. Thuram, der Außenverteidiger, verschuldete | |
| zunächst die Führung der Kroaten, indem er das Abseits aufhob. Danach | |
| schoss er beide Tore zum Sieg. Sein Torjubel ist bis heute unvergessen. | |
| In Denkerpose wartete er auf die Gratulationen der auf ihn zustürmenden | |
| Kollegen. Ein paar Tage später war Frankreich Weltmeister und die große | |
| Multikultihymne auf das bunte Black-Blanc-Beur-Team wurde angestimmt. | |
| Heute ist Thuram 44. Die Denkerpose steht ihm immer noch. Er widmet sein | |
| Leben dem Kampf gegen Rassismus und für mehr Chancengleichheit in der | |
| Gesellschaft. Er hat mehrere Bücher herausgegeben und kuratiert mit seiner | |
| Stiftung, der Fondation Lilian Thuram, Ausstellungen, mit der er seinen | |
| Traum von einer humanitären Gesellschaft mit gleichen Chancen für alle | |
| transportieren will. | |
| Der WM-Erfolg der französischen Mannschaft, der seinerzeit so überhöht | |
| worden ist, hat für ihn auf dem Weg dahin keine tragende Rolle gespielt. | |
| „Diese ganze Multikultierzählung fand ich schon 1998 Quatsch“, sagt er im | |
| Gespräch mit der taz. „Da geht es doch immer nur um Hautfarbe und Religion | |
| und gerade nicht um die nötige Gleichheit.“ | |
| Streit, Streik und Misserfolg haben die Fans entfremdet | |
| Mit dem Begriff Multikulti kann er ohnehin nicht viel anfangen. Für Thuram | |
| ist das ein „künstlicher Begriff“. Er sagt: „Am interessanten finde ich, | |
| was alles nicht mit ihm gesagt wird. Er trifft die Lebenswelt nicht, weil | |
| er einen alltäglichen Zustand überhöhen will.“ Ganz so, als sei eine | |
| stinknormale Busfahrt durch Paris schon etwas Besonderes. | |
| Im Mannschaftssport Fußball hat Multikulti für Thuram ohnehin eine ganz | |
| andere Bedeutung. „Jede Mannschaft ist doch per se schon multikulti: Jeder | |
| Spieler hat seine ganz eigene Kultur.“ Was passieren kann, wenn Spieler | |
| nicht bereit sind, ihre persönliche Kultur auf die ihrer | |
| Mannschaftskameraden abzustimmen, war gut zu beobachten in der | |
| französischen Nationalmannschaft der vergangenen Jahre. Streit, Streik und | |
| Misserfolge haben die Fans in Frankreich von ihren Fans entfremdet. | |
| Vor sechs Jahren kam es im WM-Quartier des französischen Teams in Südafrika | |
| zum beinahe totalen Eklat. Ein Spieler, Nicolas Anelka, hatte den Trainer | |
| beleidigt und wurde nach Hause geschickt. Die Mannschaft stellte sich | |
| hinter den Suspendierten und muckte auf. | |
| Die Protesterklärung musste ausgerechnet der Trainer, der den Spieler | |
| rausgeschmissen hatte, verlesen, und in der Mannschaft fand sich niemand, | |
| der die Unruhestifter zur Räson hätte bringen können. Seitdem wird in | |
| Frankreich darüber diskutiert, wie es zu diesem Eklat kommen konnte. | |
| Eitelkeiten überschätzter Fußballmillionäre | |
| Für viele liegt dahinter ein kaum zu lösender Konflikt zwischen den weißen | |
| Spielern aus bürgerlichem Haus und den Kickern aus den Vorstädten. Wenn | |
| über das französische Fußballnationalteam gesprochen wird, geht es schnell | |
| ums Große und Ganze – um Rassismus und Chancengleichheit – Thurams Themen. | |
| Eigentlich. | |
| Denn für Thuram war der Spielerstreik von Südafrika eher eine eitle | |
| Auseinandersetzung von überschätzten Fußballmillionären, „ein Total-Crash | |
| der Mannschaft“. Da habe es eine Gruppe von egoistischen Individuen | |
| gegeben, die unter die Gürtellinie zielte, eine Führung, die unfähig | |
| gewesen sei, richtige Entscheidungen zu treffen. Und am Ende hätten die | |
| falschen Anführer sich durchgesetzt. | |
| Und doch weiß auch Thuram, wie sehr jeder Konflikt in der | |
| Nationalmannschaft zu einer Diskussion über strukturellen Rassismus in | |
| Frankreich führen kann. Ganz intensiv wurde das vor fünf Jahren diskutiert. | |
| Da veröffentlichte das französische Nachrichtenportal Mediapart Pläne des | |
| französischen Fußballverbands, nach denen die Förderung von Kickern aus | |
| Einwandererfamilien beschränkt werden sollte. Der damalige Nationaltrainer | |
| Laurent Blanc stand am Rassismus-Pranger. Die Pläne, an deren Ausarbeitung | |
| Blanc nicht beteiligt war, wurden nie umgesetzt. Die Diskussion darüber | |
| jedoch lief weiter. | |
| „Benzema liebt diese Mannschaft nicht“ | |
| Und seit im November vergangenen Jahres bekannt wurde, dass der | |
| französische Nationalspieler Mathieu Valbuena mit einen Video erpresst | |
| wurde, auf dem er beim Sex mit seiner Freundin zu sehen war, wird viel über | |
| die Rolle seines Auswahlkollegen Karim Benzema spekuliert. Der soll Mathieu | |
| Valbuena über die Existenz des Videos informiert haben. Seitdem wird gegen | |
| den Star von Real Madrid ermittelt, es laufen wieder die Diskussionen über | |
| die falschen Freunde der Spieler aus den Vorstädten. Wieder ist von | |
| Rassismus die Rede. | |
| Als Thuram mit der taz spricht, kennt er die jüngste Volte im Fall Benzema | |
| noch nicht. Er spricht von einem „persönlichen Krieg“, den Benzema führe, | |
| von einem „persönlichen Problem“, das mit der Mannschaft nichts zu tun | |
| habe. Deren Image habe sich verbessert: „Frankreich kann sich wiederfinden | |
| in dieser Mannschaft, sie wird wieder geliebt“, sagt er. | |
| Da weiß er noch nicht, dass Benzema endgültig aus dem französischen Kader | |
| für die EM gestrichen worden ist. Und er weiß nicht, dass Benzema den | |
| Nationaltrainer Didier Deschamps bezichtigt hat, die Entscheidung nur aus | |
| Rücksicht vor einer rassistischen Partei getroffen zu haben, dem Front | |
| National. In der Sportpostille L’Équipe will Thuram dazu nicht viel mehr | |
| sagen als: „Benzema liebt diese Mannschaft nicht.“ | |
| Ist die neu erwachte Liebe der Franzosen zu ihrem Nationalteam also schon | |
| wieder abgekühlt? Olivier Giroud, der Stürmer, der statt Benzema im | |
| Angriffszentrum aufgeboten wird, hat einen schweren Stand. Bei einem | |
| Testspiel in Nantes wird er ausgepfiffen. | |
| Fußball taugt nicht als Folie für die Gesellschaft | |
| Die Fans würden Benzema sehen wollen und nicht ihn, vermutet Giroud | |
| hinterher. Ein paar Tage später schießt er beim Test gegen Schottland zwei | |
| Tore und wird gefeiert. Derweil läuft die Diskussion weiter, ob die | |
| Herkunft des Muslims Benzema aus dem Maghreb nicht doch etwas mit seiner | |
| Nichtnominierung zu tun haben könnte. | |
| Die Frage, welches Bild die Franzosen selbst von ihrem Heimatland haben, | |
| überwölkt jede sportliche Diskussion. „Was ist Frankreich?“ Das fragt sich | |
| auch Thuram. „Der Eiffelturm, die Baskenmütze? Franzosen haben einen | |
| christlichen Hintergrund, einen muslimischen oder sonst was. Auf alle Fälle | |
| ist das alles nicht passgenau für das Hexameter der Grande Nation.“ | |
| Lilian Thuram, der auch deshalb zur Spielerlegende geworden ist, weil er | |
| die zwei einzigen Tore, die er je in seinen 142 Länderspielen zustande | |
| gebracht hat, ausgerechnet in jenem WM-Halbfinale gegen Kroatien schoss, | |
| will ein größeres Bild zeichnen. Der Fußball taugt für ihn nicht als Folie | |
| für die Beschreibung der Gesellschaft. | |
| „Die Frage kann doch nicht lauten: Wie multikulti ist die französische | |
| Mannschaft, wie viel Symbolkraft hat sie? Sondern: Haben alle Menschen in | |
| Frankreich die gleichen Chancen?“ Die Antwort ist einfach: Nein. „Die Welt | |
| des Fußballruhms ist winzig – ja, wenn du echt fleißig und talentiert bist, | |
| kannst du es schaffen, egal welcher Hintergrund. Aber sonst? Da wird es | |
| schwierig.“ | |
| Für sein Engagement gegen Rassismus steck Thuram viel ein | |
| Nun ist Thuram, der im französischen Überseedepartement Guadeloupe | |
| aufgewachsen ist, in seinem Element – bei seiner politischen Mission. Die | |
| ist ihm wichtiger als der Fußball, der ihm so viel Ruhm eingebracht hat. | |
| „Wir Europäer – Achtung: Ich bin auch Europäer – müssen akzeptieren, d… | |
| sich unsere Gesellschaft ändert. Viele haben deshalb Angst vor | |
| Destabilisierung, dass es bergab geht. Die wenigsten wollen Veränderung. | |
| Doch Europa muss runter vom hohen Ross. Wir müssen die Systeme, die uns | |
| regieren, in ihrer jetzigen Form in Frage stellen.“ | |
| Er redet, ja er doziert regelrecht – über die Protestbewegung Nuit debout, | |
| über die Kraftlosigkeit der Sozialisten und Konservativen und über den | |
| Front National. Der profitiere von der Spaltung der Gesellschaft in | |
| politische Klassen, interessierte Bürger und Desinteressierte. „Der FN ist | |
| die Negation von allem. Er will keinen politischen Wechsel, denn weder | |
| Wähler noch Mitglieder interessieren sich für Politik. Sie machen schlicht | |
| Stimmung.“ Womit er wieder beim Thema Rassismus ist. | |
| Für sein Engagement im Kampf dagegen muss er viel einstecken. „Ich empfehle | |
| das keinem, der geliebt werden will: Du wirst dich anlegen, das ist nicht | |
| Friede, Freude, Eierkuchen.“ Vielleicht ist das ein Grund, warum es so | |
| wenige Ex-Profis gibt, die sich wirklich für gesellschaftliche Prozesse | |
| interessieren. Thuram ist ziemlich einzigartig in dieser Hinsicht. Er weiß | |
| das. Warum es nicht mehr Spielerpersönlichkeiten wie ihn gibt? „Je ne sais | |
| pas“, sagt er nach einer längeren Pause. Er weiß es nicht. | |
| 10 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Harriet Wolff | |
| Andreas Rüttenauer | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| EMtaz Bericht/Analyse | |
| Migration | |
| Fußball | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Kapitalozän | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| Albanien | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| Fans | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Fußballstar Lilian Thuram als Buchautor: Angst der Herrschenden | |
| Die rassismuskritische Schrift von Frankreichs Fußballnationalspieler | |
| Lilian Thuram ist ein sehr guter Beitrag zu postkolonialen Debatten. | |
| Kolumne Kapitalozän: Arschabwischen mit Rasenduft | |
| Der richtige Umgang mit dem Fußball will gelernt sein. Tipps: Fahren Sie | |
| Rad. Zerstören Sie die Finanzmärkte. Oder kaufen Sie eine Badeente. | |
| EMtaz: Matchwinner Dimitri Payet: Mit 29 Jahren, da fängt das Leben an | |
| Das Eröffnungsspiel ist gerettet. Der Dank geht an Dimitri Payet, der mit | |
| seinem Traumtor dafür sorgte, dass wir endlich über Fußball reden können. | |
| EMtaz: Torlinientechik bei der EM: Kamera ist nicht gleich Kamera | |
| Doppelt hält besser: Obwohl es bereits Torlinientechnik in französischen | |
| Stadien gab, ließ die Uefa dort Hawk-Eyes installieren. Warum? | |
| EMtaz: Vorbericht Schweiz-Albanien: Verschwommene Grenze | |
| Sieben Albaner mit Schweizer Pass auf der einen, sechs Schweizer mit | |
| albanischen Wurzeln auf der anderen – und mittendrin: Amir Abrashi. | |
| EMtaz Sicherheit in Frankreich: Mission Maulwurf gegen Hools | |
| Späher sollen verhindern, dass sich gewaltbereite Fans bei der EM austoben. | |
| Anhänger osteuropäischer Teams stehen unter Generalverdacht. | |
| EMtaz: Thesen zum Start: Dann spielt mal schön | |
| Es ist eine Fußballparty mit 24 Nationen, und doch liegt ein leichter | |
| Albdruck über dieser EM. Acht Texte zwischen Terrorangst und Vorfreude. | |
| EMtaz: Kommentar EM-Start: Teilurlaub fürs Gehirn | |
| Die EM beginnt in einer für Europa kritischen Zeit. Viele wenden sich ab. | |
| Dabei könnte sie auch ein Grund zur Erholung sein. | |
| EMtaz: Der Spielplan zum Download: Schwarze Spinnen und Karate | |
| Der taz-Spielplan der Euro 2016 bildet Retro-Trikots vergangener großer | |
| Spieler und Teams ab. Hier verraten wir, wer sie getragen hat. |