Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Musik für alle in Mecklenburg-Vorpommern: Der Klang der Brache
> Musik am Bau Die am 17. Juni startenden Festspiele Mecklenburg-Vorpommern
> setzen auf Industrie- und Wissenschaftsorte mit Licht-Klang-Collagen im
> Magnetfeldkäfig und Exkurse in die Geschichte der DDR. Alles mitgestaltet
> von der eigenwilligen Residenzgeigerin Vilde Frang
Bild: Lustige Festspiele: Intendant Markus Fein mit Teddy sowie Lasse und Leila…
Schwerin taz | „Mit jedem Auto, das wir bauen, retten wir den
Weltfrieden.“ Klingt wie ein frisch entsorgter Slogan von VW, stammt
aber aus der Ex-DDR. Aus den 1950er-Aufbaujahren, als man noch glaubte,
eine auch wirtschaftlich funktionierende Alternative zum
Kapitalismus zu bauen.
So war es auch in den Schweriner „Vorwärts“-Hallen, 1948 auf Befehl
der sowjetischen Besatzer als Reparaturwerkstatt für
militärische und zivile Lkw in Auftrag gegeben; später wurden
dort auch Trabis repariert. Das einst riesige Werk war einer der
Vorzeigebetriebe der DDR; Reparatur am Fließband war damals der
letzte Schrei.
Heute ist es eine Industriebrache: Die Hallen sind zu morbiden Glas-
und Stahlskeletten geworden. Das alles in Rufweite des Schweriner
Zentrums und inmitten idyllischer mecklenburgischer Landschaft.
Dass das nicht so bleiben kann, ist allen klar. Konkrete Beschlüsse gibt
es aber nicht. Und damit zumindest die Geschichte des nach 1989
zerlegten und verkauften Werks hörbar wird, geht das 26. Festival
Mecklenburg-Vorpommern jetzt einen ersten Schritt: Es bespielt die
Gebäude in der Reihe „Unerhörte Orte“, die diesmal auf Industrie- und
Wirtschaftsbauten setzt.
Denn über diesen Aspekt der Region wissen die West-Touristen genauso wenig
wie viele Einheimische. Das hat die Macher gereizt. Sie wollen den Klang
der Orte erlauschen und etwas hinzufügen, auf dass eine
Raum-Klang-Installation entstehe.
Eine der interessantesten Recherchen ist bei den „Vorwärts“-Hallen
herausgekommen: Minutiös hat sich Ralph Reichel, Chefdramaturg
des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, durch Archive und
Akten gewühlt, um die Entwicklung des einstigen
KFZ-Instandsetzungswerks (KIW) zu verstehen. Da wäre einmal die
faktische Chronologie. Dann deren Politisierung in Form
offizieller Verlautbarungen aus Betriebszeitungen; das anfangs
zitierte Bonmot von den „Autos für den Weltfrieden“ zählt dazu.
Und um die Umsetzung der politischen Version anhand konkreter Biografien zu
überprüfen, sprach Reichel im letzten Schritt mit Menschen, die einst in
den „Vorwärts“-Hallen arbeiteten: Ein Ingenieur, der von Anfang an
dabei war, sowie zwei Monteure, die in den 1970er- und 1980er-Jahren dort
anfingen, haben Erinnerungen und Reflexionen auf Bänder
gesprochen.
Die wird Reichel für den Konzertabend zu einer 30-Minuten-Collage
zusammenschneiden. Während die Schauspielerin Anna Thalbach die
Texte liest, dürfen die Besucher dann in den Hallen herumgehen und den Raum
erspüren.
Dabei geht es wohlweislich nicht um DDR-Nostalgie. „Wir wollen den
Besuchern vielmehr ein Gefühl für eine Entwicklung vermitteln“,
sagt Reichel. Denn es gehe ja nicht nur um diese konkrete Fabrik. Die
Genese der „Vorwärts“-Hallen stehe für die ganze DDR. „Thema meiner
Collage ist die Entwicklung von Hoffnung über Stagnation und Zweifel
bis zur Abwicklung und individuellem Neubeginn“, sagt er.
Aber DDR bedeutet nicht nur Abwicklung: Die inzwischen vom
Max-Planck-Institut betriebenen Kernfusions-Experimentieranlagen
Wendelstein 7-X in Greifswald laufen weiter. Vor einem halben Jahr
wurden sie berühmt, weil sie weltweit erstmals Helium- und
Wasserstoff-Plasma erzeugt hatten.
Zentrum der Anlage ist ein kreisförmiger Magnetfeldkäfig. Er ist
durch eine Tür von den Hallen getrennt, die man für das Konzert öffnen
will. Womit das Labor mit seinen fast künstlerisch verschlungenen Röhren
zur Konzertkulisse wird. Die dazu gespielten teils klassischen, teils
jazzig-experimentellen Stücke von Komponisten wie Ugis Praulins und
Vytautas Miskinis handeln vom Licht – dem bestmöglichen Link zwischen
Naturwissenschaft und Kunst.
Und auch wenn Festival-Chef Markus Fein die „Unerhörten Orte“ nicht
bloß als Label nutzen will, verschwimmt die Grenze zum Marketing
schnell. Besonders auffällig ist das beim Korbwerk Heringsdorf, der
ältesten Strandkorbmanufaktur Deutschlands.
Das Werk ist noch in Betrieb, die Konzertakustik eher mäßig, aber
darauf kommt es auch nicht an: Flanierend sollen die Besucher auch diese
Räume erkunden, in jeder Ecke eine andere Musik hören und sich am
maritimen Flair ergötzen. Und am durchaus ambivalenten Programm,
das neben Werken der zeitgenössischen russischen Komponistin Sofia
Gubaidulina diverse Seemannslieder bietet. Natürlich nicht zur
gleichen Zeit am gleichen Ort. Aber die Kombination ist kühn und zeugt
vom unbedingten Willen, ein breites Publikum zu bedienen.
Mit solch basisdemokratischen Idealen ist auch die diesjährige
Residenzkünstlerin aufgewachsen: Die 29-jährige Geigerin Vilde
Frang stammt aus Norwegen, und dort gibt es – wie in Schweden – ein
ungeschriebenes Gesetz, das ihre Karriere durchaus hätte bremsen können:
das „Janteloven“, einen Verhaltenscodex, der Bescheidenheit predigt,
das Kollektiv über das Individuum stellt und Leistungsdruck
insbesondere für Kinder ablehnt.
Das habe sie, die als Zehnjährige mit dem norwegischen
Rundfunkorchester spielte und später bei Anne-Sophie Mutter
lernte, sehr genervt, sagt Vilde Frang. „Ich wollte schon als
Vierjährige nichts anders als musizieren“, erzählt sie. „Aber ich
bin auch faul und freue mich, dass meine Eltern mich zum Üben drängten.“
Und diese ganzen Leute – Konzertbesucher, Schullehrer, alle – die
fragten, ob sie nicht zu viel Druck bekomme und ob sie auch genug Spaß
habe: „Die habe ich gehasst. Ich dachte, die verstehen gar nichts“,
sagt Vilde Frang. Denn Geigen ist für sie „so notwendig und
selbstverständlich wie Zähneputzen. Es ist Teil meiner
Persönlichkeit.“
Einer eigenwilligen außerdem: Frang, die schon 2010 bei den
Festspielen gastierte und damals den Solistenpreis bekam, fragt nicht groß,
welche Komponisten ihre Agentur für marktgängig hält. Sie spielt
unverdrossen Werke von Korngold, Schönberg, Britten. Aber sie weiß auch,
was sie meidet: das berühmte Violinkonzert von Beethoven. „Das ist
mir zu versöhnlich“, sagt sie. „Ich bin noch in der Kämpferphase. Und
um allen vergeben zu können, muss ich noch ein paar mehr graue Haare
haben.“
17 Jun 2016
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Mecklenburg-Vorpommern
Musikfestival
DDR
Auschwitz
Wendland
Musik
Elbphilharmonie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Musik von Nazi-Opfern: „Nicht nur gesessen und geweint“
Das Hamburger Musikfest präsentiert in seinem Schwerpunkt „Überlebensmusik�…
Komponisten vor allem aus dem einstigen Getto Theresienstadt.
Hitzacker-Festival feiert Jubiläum: 70 Jahre Musik im Castor-Land
Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker werden 70. Ohne den Zweiten Weltkrieg
gäbe es sie nicht, denn die Gründer waren Flüchtlinge.
Musiksommer: „Grenzen ignorieren“
Der neue Chef des Schleswig-Holstein Musik Festivals hat die Landpartien
ausgeweitet und die Hamburger Spielorte reduziert. Das sei aber kein
Abgesang, sagt er.
Neuer Musikfest-Anlauf: Orte für die Ohren
Hamburg hat wieder ein Musikfest. Respekt verdient der Initiator,
Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter, schon dafür, dass er
die teils zerstrittene Szene mit ins Boot bekommen hat. Programmatisch
herausgekommen ist dabei ein hochklassiger, aber unverbindlicher Mix.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.