# taz.de -- Hitzacker-Festival feiert Jubiläum: 70 Jahre Musik im Castor-Land | |
> Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker werden 70. Ohne den Zweiten | |
> Weltkrieg gäbe es sie nicht, denn die Gründer waren Flüchtlinge. | |
Bild: Blick auf die andere Elbseite. Von dort kamen nach dem Zweiten Weltkrieg … | |
Sommer und Musik – das klingt nach Idyll. Nach dem „Nachmittag eines Fauns�… | |
in flirrender Landschaft, in diesem Fall der Elbtalaue, wo sich Has und | |
Fuchs Gute Nacht sagen. Und immer im Juli wird das untermalt von den | |
Klängen der Sommerlichen Musiktage Hitzacker, die dieses Jahr 70 werden und | |
sich das Motto „Fest“ gegeben haben. | |
Aber es ist nicht nur das, was diese Gegend besonders macht: Dort betrieb | |
die reichsdeutsche Wissenschaftliche Forschungsgesellschaft (Wifo) zur | |
Nazizeit ein riesiges Treibstofflager, in dem Zwangsarbeiter und | |
Kriegsgefangene arbeiten mussten. Bis heute spricht man in Hitzacker ungern | |
darüber. Außerdem liegt das hochwassergefährdete Städtchen mit 4.800 | |
Einwohnern im Wendland, durch das Castortransporte führen – und die | |
Proteste der Gegner. | |
## Integratives Festival | |
Zudem liegt der Ort an der Grenze zur ehemaligen DDR; vor 1989 konnte man | |
über die Elbe direkt nach „drüben“ schauen. Und von dort waren nach dem | |
Ende des Zweiten Weltkriegs große Flüchtlingsströme gekommen; viele von | |
ihnen hatten sich zunächst in Hitzacker eingerichtet. | |
Etliche Kulturschaffende waren darunter, aus Potsdam und dem | |
kriegszerstörten Berlin – „und wenn Sie fünf Musiker zusammensetzen, | |
garantiere ich Ihnen, nach einer Woche haben Sie ein Ensemble“, sagt Linda | |
Anne Engelhardt, Vorsitzende der „Gesellschaft der Freunde der Sommerlichen | |
Musiktage Hitzacker“. | |
Genauso kam es: Schon im Jahr 1946 feierte man dort die ersten Musiktage: | |
ein kleines, zunächst bodenständiges Kammermusik-Festival, das nach | |
Engelhardts Worten „explizit kein reines Flüchtlingsfestival“ war, sondern | |
eher ein Akt gelingender Integration. Flüchtlinge seien zwar die | |
Gründungsväter gewesen, aber sehr bald hätten die örtlichen Gesangsvereine | |
und Blechbläser mitgemacht. Lieder von Carl Loewe, aber auch | |
Bewährt-Klassisches wie Mozart, Beethoven und Sibelius und Liszt standen | |
1946 auf der Agenda. | |
Allerdings, die Parole dieses ersten Festivals wirkt pathetisch: „An der | |
Grenze des freien Deutschland“ wolle man „eine Hochburg edelster deutscher | |
Kultur“ errichten, stand 1946 im Programmheft. Das klingt nach der Sprache | |
der damals gerade vergangenen Nazi-Ära. „Nein“, sagt Engelhardt. „das | |
klingt nach Kaltem Krieg. Damals zeichneten sich Konflikte zwischen den | |
Alliierten in den verschiedenen Besatzungszonen ab.“ | |
Besonders das politische System der sowjetischen Besatzungszone habe den | |
Menschen Angst gemacht. Und auch wenn man den Mauerbau erahnt habe, sei die | |
Rede vom auch kulturellen Bollwerk gegen den Kommunismus fest im Alltag | |
verankert gewesen, sagt Engelhardt. Von politischer Vereinnahmung zeuge | |
solch eine Parole nicht. | |
Wie dem auch sei, das von der Stadt Hitzacker finanzierte Festival gedieh | |
gut. Es blutete auch nicht aus, als viele der musizierenden Flüchtlinge | |
weiterzogen. Denn sie hatten inzwischen Freunde und Gastmusiker motiviert, | |
beim Festival mitzuwirken, und das recht ambitioniert: 1947 schon stand der | |
Neutöner Paul Hindemith auf dem Programm, später wurde Monteverdis frühe | |
Oper „Orfeo“ gegeben. Den hat der NDR flugs auf Grammophon aufgenommen und | |
gut verkauft. „Das war ein Paukenschlag für die internationale Bekanntheit | |
des Festivals“, sagt Engelhardt. | |
## Trägerverein als Retter | |
1950 stand das Ganze allerdings auf der Kippe: Die Stadt Hitzacker konnte – | |
wegen der Währungsreform und weil Kultur schon damals keine Pflichtaufgabe | |
war – nicht mehr fördern. Aber die Idee trug; 18 Ehrenamtler, die man heute | |
Bildungsbürger nennen würde, fanden sich zur „Gesellschaft der Freunde der | |
Sommerlichen Musiktage Hitzacker“ zusammen. Inzwischen gehören dem | |
Trägerverein 400 Menschen an, von denen 20 Prozent aus Hitzacker, der Rest | |
aus Hamburg, Hannover, Celle, sogar Dänemark und den Niederlanden kommen. | |
Mit einem Budget von 400.000 Euro jährlich ist es das inzwischen älteste | |
Kammermusikfestival Deutschlands. 40 Prozent des Geldes stammen aus | |
Kartenerlösen, 30 Prozent von staatlichen Institutionen, 30 Prozent von | |
privaten Stiftungen. Der Trägerverein betreibt die Akquise und beruft auch | |
die Festivalchefs. Sieben waren es bislang, fast immer Violinisten oder | |
Cellisten, „weil Kammermusik nun mal streicherlastig ist“, sagt Engelhardt. | |
Einzig Markus Fein, Festivalchef von 2002 bis 2011, war Musikmanager. Und | |
ausgerechnet er revolutionierte das Programm: Fortan gab es thematische | |
Schwerpunkte, die „Traum“, „Labor“ oder „Tanz“ hießen. Zudem erfan… | |
ausgefeilte Musikvermittlung in Form von Hörer-Akademien und Chorsingen für | |
die Besucher. | |
Man sieht: Engstirnigkeit war des Festivals Sache nie, und ganz | |
folgerichtig ist in den letzten Jahren auch die Selbstreflexion | |
dazugekommen. Denn wer musikalische Spaziergänge durch die Natur anbietet, | |
muss auch die Folgen des von ihm verantworteten Tourismus reflektieren. | |
Deshalb nahm man vor drei Jahren Diskussionen des neuen „Forum | |
Nachhaltigkeit“ ins Programm auf. In diesem Jahr wird der Chef der | |
Biosphärenreservatsverwaltung Niedersächsische Elbtalaue sprechen. | |
Da wartet viel Gesprächsstoff, denn Engelhardt weiß, dass der ökologische | |
Fußabdruck zu wünschen übrig lässt: Bislang fahren die Züge so ungünstig, | |
dass viele Besucher per Auto anreisen müssen. | |
## Barockfest zum Abschluss | |
Aber das liegt nicht in Engelhardts Hand. Und dass sowohl sie als auch | |
Festivalchefin Carolin Widmann in diesem Jahr aufhören, hat private Gründe. | |
Bevor sie geht, hat sie aber noch eine Geburtstagsparty mit Renaissance, | |
Barock, Clubnacht und Jam-Session organisiert. | |
Außerdem bekommt die 30-jährige serbische Komponistin Milica Djordjevic | |
dort am 26. Juli den Belmont-Preis für zeitgenössische Musik der | |
Forberg-Schneider-Stiftung. Erklingen wird dazu eine Vertonung eines | |
Gedichts des rumänischstämmigen Serben Vasko Popa. Er war Partisan im | |
Zweiten Weltkrieg, überlebte das KZ Beckerek und schreibt heute | |
expressiv-verschlüsselte Gedichte über Natur und Geschichte. „Ich würde | |
ihn“, sagt Widmann, „am ehesten mit Trakl oder Celan vergleichen.“ | |
18 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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