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# taz.de -- Kommentar Ukraine und der ESC: Spiegel europäischer Nervosität
> Dass Jamala nun die Eurovision-Krone trägt, ist kein Beleg für die
> Teilung Europas. Im Gegenteil, sie zeigt, wie nahe wir uns sind.
Bild: Die Gewinnerin ganz in europäisches blau gehüllt
Über die Show selbst darf gesagt sein: Wer ein Herz hat, sah, dass da fast
vier Stunden Entertainment der Weltklasse zu sehen war. Ein Spektakel der
Diversität – und dargeboten mit feinem Humor. Allein wer die kleine
Veräppelung einer christlichen Taufe aus der Perspektive von
Eurovisionsnerds sah (als Pastorin: Katrina Leskanich, von Katrina & The
Waves), durfte erkennen: Ja, so geht geht Satire, die sich wie Feinsinn
buchstabiert, nicht wie nach sonderpolitpädagogischem Belehrmuster wie Jan
Böhmermann & Friends.
Aller Festlichkeit zum Trotz, allem Glamour, zu dem nicht einmal besonders
Gast Justin Timberlake beitrug, zum Widersinn: Mit der Ukrainerin Jamala
hat eine Sängerin gewonnen, die ästhetisch einen ganz anderen Weg ging. Sie
thematisierte in ihrem Titel „1944“ stalinistische Deportationen auf der
(sowjetischen, jetzt russischen) Krim so ernsthaft, so dringlich an die
Adresse des freien Europa gerichtet, dass ihr, der Außenseiterin, die
Punkte nur so zuflogen.
Allerdings repräsentierte diese Chanteuse weniger die eine Seite eines, wie
es in Statements zum ESC nun heißt, „Risses durch Europa“. Sie siegte, weil
sie glaubwürdig die Atmosphären europäischer Nervosität, der Stimmung
zwischen Finanzkrise, der Popularisierung rechtsnationaler Parteien und
autokratischer Versuchungen nach Muster Wladimir Putins zur Geltung
brachte.
Gegen die Phantasie vom geteilten Europa spricht ohnehin, dass Jamalas
„1944“ bei der Zuschauerabstimmung in Russland die zweithöchste Wertung
erzielte – ihr russischer Konkurrent Sergej Lazarev erntete aus der Ukraine
sogar die vollen zwölf Punkte. Nur die Jurys in Kiew wie Moskau ignorierten
die Lieder des jeweiligen Nachbarn vollständig: Die musik-industriellen
Eliten beider Länder hält sich an den Comment der politischen
Großwetterlage über Russland und der Ukraine.
## Die Bloodlands im Pop
Wehklagen aus dem Kreml, sein Kandidat mit der Pop-Konfektions-Nummer „You
Are The Only One“ sei durch die Jurys benachteiligt worden, gehen ins
Leere: In anderen Jahren lagen russische Beiträge beim ESC vorne, weil die
Jurys vor allem aus den früher sowjetischen Staaten ihnen Punkte in Hülle
und Fülle zuschusterten.
Mit Jamalas Sieg – der in allen sonst nicht dem ESC gewogenen
Nachrichtensendungen als erste politische Meldung präsentiert wurde – ist
das Thema der „Bloodlands“ (Timothy Snyder) auf die Agenda der europäischen
Aufmerksamkeit auch jenseits der politischen Zirkel gesetzt worden. Die
Siegerin selbst erzählt in Interviews, dass die Deporationen der
Krimtataren, zu deren Nachfahren sie zählt, ohne den Holocaust, also die
Wehrmacht in der Ukraine nicht denkbar gewesen sei. Und nicht ohne ein
stalinistisches Regime, dem an Menschenrechten nicht lag.
Der ESC, immer schon politisch durchwirkt, hat mit diesem Ergebnis den Clou
dieses politischen Jahres ermöglicht. Man spricht über Freiheit und die
Verbrechen an Millionen von Menschen vor vielen Jahren. Jamala, die kluge
Sängerin, berichtet davon, dass diese Zeiten nicht einfach unter den Tisch
gekehrt werden dürfen – sonst, so sagte sie, sei Trauer nicht möglich. Was
für eine politisch kluge Botschaft!
Die wichtigste ihrer Messages jedoch war diese Aussage: Wir wollen, dass
Europa uns Ukrainer sieht. Uns nicht vergisst. Von Russland wollen wir nur
in Frieden gelassen werden. Zu Europa gehören wir längst. Ihr ist nichts
hinzuzufügen. Auf Wiedersehen in Kiew – vermutlich mit der
ESC-Eröffnungsparty auf dem Maidan. Ist das nicht eine Verheißung?
Schließlich: Der ESC-Sieg der Ukraine bedeutet faktisch einen 12monatigen
Frieden seitens Russlands. Putin & Freunde werden, wenn das restliche
Europa dem nächsten ESC-Projekt in Kiew beim Aufbau hilft, es nicht wagen,
das Land offen zu zermürben.
15 May 2016
## AUTOREN
Jan Feddersen
## TAGS
Schwerpunkt Eurovision Song Contest
Ukraine
Russland
Europa
Krim
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