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# taz.de -- ESC-Kandidatin der Ukraine: „Meine Botschaft? Multikulturalität!…
> Susana Dschamaladinowa alias Jamala ist die Gewinnerin der ESC-Vorauswahl
> der Ukraine. Sie singt von den Krimtataren.
Bild: „Meine Botschaft ist: Wenn du deine Familie, Kultur, Sprache, Geschicht…
taz: Jamala, angenommen, Sie gewinnen den nationalen Entscheid am 21.
Februar [das Interview wurde vor dem Ausscheid geführt], dann werden Sie
bei der Eurovision als Krimtatarin für die Ukraine singen. Was empfinden
Sie dabei?
Jamala: Ich werde mein Land vertreten. Ich bin eine Ukrainerin
krimtatarischer Herkunft.
Sie leben jetzt in Kiew. Wann waren Sie zuletzt auf der Krim?
Im Sommer 2014.
Was vermissen Sie, wenn Sie an die Krim zurückdenken?
Die helle und fröhliche Atmosphäre meines Elternhauses am Meer. Die Krim
ist für mich ein Inbegriff für Zuhause, für Heimat, für innere Ruhe. Meine
Familie war immer schon sehr musikalisch – und sehr witzig. In den
Erinnerungen ist meine Kindheit ein einziges endloses Konzert. Zum
Abendbrot kamen gewöhnlich um die zwanzig Personen. Der Vater spielte
Akkordeon, die Mutter Klavier, meine Schwester Dombra (ein in Zentralasien
weit verbreitetes Zupfinstrument, d. Red.), und ich habe gesungen. Wir
hatten unglaublich viel Spaß.
Sie träumten von einer Karriere an der Oper. Dann sangen Sie plötzlich
Jazz, Soul und orientalische Melodien. Wie kam es zu diesem Wandel?
In Wirklichkeit war diese Musik immer schon in mir. Während des Studiums im
Musikgymnasium bin ich dem Jazz verfallen, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan,
Billie Holiday. Dann kam die Begeisterung für Klassik dazu. Dank
Schumann-Liedern habe ich angefangen Deutsch zu lernen. Bei der
Abschlussprüfung habe ich „Der Tod und das Mädchen“ von Schubert gesungen,
ein kompliziertes Stück für Bariton und Bass, und das mit 16 Jahren.
Daraufhin habe ich eine Empfehlung für das Konservatorium in Kiew bekommen.
Ich war wohl die Erste, die dort mit 17 aufgenommen wurde. Üblicherweise
wartet man noch ein paar Jahre ab, bis die Stimme entwickelt ist.
Zwischen dem Lied „Smile“, mit dem Sie sich beim nationalen Entscheid der
Eurovision 2011 beworben haben, und Ihrem diesjährigen Beitrag liegen
Welten. Wie kommt das?
Damals wollte ich in die drei Minuten alles einbringen, was ich drauf habe.
Heute will ich keinem was beweisen, ich genieße einfach die Musik, die ich
mache. Ich bin wohl reifer geworden.
Ihr Lied heißt „1944“. Das ist das Jahr, als die Krimtataren deportiert
wurden. Ein politisches Statement?
Nein! Es handelt sich um die Geschichte meiner Familie, meiner
Urgroßmutter. Die Idee für das Lied hatte ich schon lange. Ich habe es aber
immer wieder hinausgeschoben, weil das Thema mich wahnsinnig belastet hat.
Als der Text vor anderthalb Jahren endlich fertig war, saß ich am Flügel
und habe die ganze Zeit geheult. Wahrscheinlich musste ich einfach Abstand
gewinnen. Jetzt konnte ich den Song mit anderen Augen sehen und die Musik
dazu komponieren. Ich bin mit dem Ergebnis zufrieden. Ich trete an, um mein
Stück zu singen und die Geschichte meiner Familie zu erzählen.
Welche Geschichte?
Meine Urgroßmutter Nasyl-Chan hat in einem Dorf an der Südküste der Krim
gelebt. Am 18. Mai 1944 drangen die Militärs in ihr Haus ein. Sie hatte 15
Minuten, um ihre Sachen zu packen. Dann wurde sie mit fünf Kindern in einen
Güterwaggon gepfercht. Ihr Mann kämpfte in der Sowjetarmee gegen
Hitlerdeutschland, während sie mit vielen anderen Krimtataren, die von
Stalin zu Staatsfeinden erklärt wurden, über mehrere Wochen nach
Zentralasien deportiert wurde. Das war ein perverses Menschenexperiment.
Die Schwächsten wurden dahingerafft, unter ihnen die Tochter meiner
Urgroßmutter. Es war sehr heiß, die Leichen verwesten, sie mussten aus dem
Zug einfach hinausgeworfen werden. Die Urgroßmutter musste damit fertig
werden, sie hatte ja noch vier Söhne bei sich. Alle fünf sind dann später
auf die Krim zurückgekehrt. Am Leben ist nur noch mein Großvater, der mit
meinem Vater auf der Krim wohnt.
Die Krimbewohner konnten an der Abstimmung beim Halbfinale nicht
teilnehmen. Wie sind die Reaktionen auf Ihr Lied auf der Krim?
Die Organisatoren sind immer noch dabei, eine Genehmigung für eine
Stimmabgabe der Krimbewohner zu erwirken. Aber die Monitoring-Agentur wehrt
sich dagegen. Eine unabhängige und faire Stimmabgabe sei nicht zu
gewährleisten. Ich habe Unmengen an Briefen von der Krim bekommen. Die
Menschen unterstützen mich und wünschen mir Erfolg. Man hat mir erzählt,
dass mein Lied in den dortigen Cafés und Läden gespielt wird.
Wenn Sie eine offizielle Einladung von der Krim-Verwaltung bekämen, würden
Sie ein Konzert auf der Krim geben?
Das ist für mich im Moment ausgeschlossen. Nicht zuletzt hätte ich Bedenken
wegen möglicher Provokationen. Ich ziehe es vor, abzuwarten und die
Situation zu beobachten.
Wie steht es um die Krimtataren?
Sie haben es schwer, weil sie in Opposition zur Krim-Macht stehen.
Beschimpfungen, Durchsuchungen, Schikanen sind an der Tagesordnung.
Aktivisten verschwinden spurlos. Ich mache mir große Sorgen.
Wie sehen Sie die Zukunft der Krim?
Es ist schwer über die Zukunft der Krim zu reden. Was ich sehe, zeugt von
totaler Hoffnungslosigkeit. Die Jugendlichen fliehen von der Krim, weil sie
dort überhaupt keine Chance für sich sehen. Es ist ein sonderbarer
eingefrorener Zustand, einerseits gibt es diese Halbinsel sehr wohl, und
andererseits weiß niemand so recht, wohin mit ihr – der Zustand eines
Koffers ohne Griffe.
2004 hat die ukrainische Eurovision-Siegerin Ruslana die Ukraine im Westen
bekannt gemacht. Ist sie ein Vorbild für Sie?
Tatsächlich, das war schon eine kleine Revolution bei der Eurovision.
Ruslana hat es fertiggebracht in einem Lied das Wesentliche der
ukrainischen Mentalität zum Ausdruck zu bringen: den starken Willen, den
Drang zur Freiheit und die Bereitschaft, dafür einzustehen. Bereits der
Titel ihres Liedes „Wilde Tänze“ sprühte vor Energie, Feuer und Bravour.
Mein Lied ist ganz anders. Es erzählt von Schmerz und Leid, was genauso zum
Leben gehört. Es ist eben nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen.
Haben Sie eine Botschaft an Europa?
Multikulturalität. Ich glaube, die Deutschen würden mich am ehesten
verstehen. Das, was in diesem Land gerade passiert, ist beispielhaft. Dort
leben viele Nationalitäten zusammen, und trotzdem behalten die Deutschen
ihre Identität. Meine Botschaft ist: Wenn du deine Familie, Kultur,
Sprache, Geschichte achtest, wirst du auch mit derselben Achtung anderen
begegnen. Wir reden alle so viel über Toleranz und lassen gleichzeitig das
Gegenteil zu. Ehrlich gesagt, wundert es mich, dass das noch nie ein Thema
bei der Eurovision war!
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk
22 Feb 2016
## AUTOREN
Anastasia Magazowa
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