# taz.de -- Karlsmedaille für Eurovision Song Contest: Auf Europas Krise antwo… | |
> Der populäre Musikwettbewerb wird ausgezeichnet – für seine Verdienste um | |
> Europa. Die Laudatio von Björn Ulvaeus fokussiert auf das Wesentliche. | |
Bild: Laudator Björn Ulvaeus steht in Aachen rum | |
AACHEN taz | Das war vor wenigen Wochen eine Meldung, die eher im Wust der | |
täglichen Nachrichten unterging. Vielleicht untergehen sollte – mangels | |
Respekt vor einer in diesen Tagen 60 Jahre währenden Tradition? Jedenfalls: | |
Ein international erweitertes, gleichwohl in Nordrhein-Westfalen | |
beheimatetes Gremium hat den Eurovision Song Contest mit der 16. | |
Karlsmedaille ausgezeichnet. | |
Am Donnerstag fand im Krönungssaal des Rathauses zu Aachen die Verleihung | |
statt. Aachen – 1944 erste durch alliierte Truppen unterworfene Großstadt | |
in Nazideutschland, und eine kleine Metropole, die stolz ist, fußläufig | |
Belgien und die Niederlande zu Nachbarn zu haben. Außerdem, natürlich, | |
Krönungsort von Karl dem Großen im Jahre 800: Wer in Aachen einen Preis | |
verliehen bekommt, nimmt diesen nicht am schlechtesten Ort entgegen. | |
Klar, das ist am Rande wuchtiger Treppen auf stolzen Inschriften unter | |
schmucken Repräsentationsbildern zu erkennen: ein Papst, | |
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und so viele andere Prunkfiguren der | |
offiziellen europäischen Politik haben den Karlsrpeis zuerkannt bekommen, | |
aber die Karlsmedaille ist auch nicht übel. Timothy Garton Ash, Reporter | |
ohne Grenzen oder André Rieu haben ihn schon überreicht bekommen: Dieses | |
Jahr ist es die inzwischen populärste europäische Show. Gerade zur rechten | |
Zeit, denn in wenigen Tagen beginnen in Stockholm die Proben für den 61. | |
ESC mit dem Finale am 14. Mai als Krönungsmesse. | |
Ingrid Deltenre, Generaldirektorin der European Broadcasting Union in Genf, | |
wo das öffentlich-rechtliche Netzwerk von TV- und Radiostationen aus mehr | |
als vier Dutzend Ländern seinen Sitz hat, betonte, der Preis gehöre eben | |
auch dieser Rundfunk- und Fernsehunion nichtprivater Sender, denn diese | |
veranstalte den ESC seit 1956. Der Trick für den unverwüstlichen Erfolg | |
sei, so Deltenre, dass es von Politischem im direkten Sinne absehe. Niemand | |
dürfe auf der Bühne andere Menschen beleidigen. Mehr noch: Anders als beim | |
Sport sei es beim ESC gar nicht möglich, das eigene Land zu begünstigen, | |
weil die Punkte dieser sportiven Popshow nicht für die eigenen Kandidaten | |
gegeben werden dürfen. Zwangsläufig müsse man sich beim ESC auf andere | |
Lieder und Länder konzentrieren. | |
## Verweis auf Conchita | |
Hilde Scheidt, Aachens Bürgermeisterin, eine Grüne, erzählte in ihrer | |
Ansprache, wie sehr der ESC ihre Kindheit und Jugend geprägt habe: Man habe | |
vor dem Bildschirm gesessen und gebannt den Auftritten zugeschaut – „das | |
Internationale kam ins eigene Wohnzimmer, das war ergreifend“. | |
Thomas Schreiber, ARD-Unterhaltungskoordinator und Chef der deutschen | |
ESC-Belange, erinnerte an das Momentum vor zwei Jahren, als Conchita Wurst | |
gewann – ein schwuler Mann in der künstlerischen Figur einer Drag Queen. | |
Ein Gewinner, mit Punkten aus illiberal-katholischen Regionen mit sonst so | |
starken homophoben Tendenzen: Auch für solche Statements sei der ESC in die | |
europäische Geschichte der populären Künste eingegangen. | |
Höhepunkt in gewisser Weise war jedoch die Laudatio auf den ESC, der in | |
Deutschland in Verkennung der Popqualitäten dieses Events noch näselnd | |
Grand Prix Eurovision de la Chanson geheißen wurde, durch Björn Ulvaeus – | |
der Mann von Abba, der in Brighton 1974 beim Sieg dieser schwedischen | |
Poplegende die grell-sternengezackte E-Gitarre zupfte. | |
## Das Leben verändert | |
Ulvaeus, mit 71 auch nicht mehr der Jüngste, aber im Timbre noch so cool, | |
weich und hart, wie einst, begann mit der Bemerkung: 1956 habe es den | |
ersten ESC gegeben – im Jahr, „when Elvis changed the world“, als eine ne… | |
Musik aus den USA nach Europa wehte, nicht der Ästhetik von klassischem | |
Gesang und europäischen Liedformen verpflichtet, sondern sie sprengend. | |
Aber, so der Abba-Mann, der ESC habe ihr Leben mit dem Sieg vor 42 Jahren | |
vollständig verändert – mit dem Contest an der englischen Südküste waren | |
ihnen die Tore über Schweden hinaus geöffnet. | |
Bis heute habe sich viel geändert, auch die Bühnenauftritte glichen oft | |
zirzensischen Darbietungen. Wichtig aber sei der ESC, weil er ein Symbol | |
ist gegen alles, was er persönlich ablehne: Nationalismus, Gehässigkeiten | |
gegen Flüchtlinge, religiösen Fanatismus – der Contest als Festival so | |
vieler Länder sei eine Art Antwort auf die Krise Europas, oder doch | |
zumindest ein Teil von dieser. | |
Die Preisverleihung war eine weitgehend smarte Sache, wenn da nicht die | |
Unhöflichkeit zu notieren ist, dass Nicole, die 1982 mit „Ein bisschen | |
Frieden“ für Deutschland den ersten und bis Lena 2010 einzige ESC-Triumph | |
schaffte, zwar geladen war und auf dem Gesprächspodium ein wenig | |
mitplaudern durfte, aber: Wieso ließen die Veranstalter sie nicht singen – | |
„ich hätte es in jeder Sprache gemacht“, sagte sie hernach | |
Nicole teilte jenseits des Protokolls mit, sie könne ihre Friedensbotschaft | |
immer noch vertreten – „eigentlich mehr denn je“. Europa sei eine zu | |
kostbare Sache, als dass sie den Mund halten könne: „Der ESC ist Teil | |
unserer europäischen Identität – ich bin stolz, etwas dazu beigetragen zu | |
haben.“ | |
28 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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