# taz.de -- WBGU-Gutachten über Riesenstädte: Der große Umzug in die Megast�… | |
> Die Urbanisierung schreitet weltweit unaufhaltsam voran. Wuchernde | |
> Riesenstädte treiben auch den Klimawandel immer weiter an. | |
Bild: Megacities wie Hongkong sind ökologische Monster und Ressourcenfresser | |
Das 21. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Städte. Niemals zuvor | |
lebten so viele Menschen in urbanen Zentren, und der Trend setzt sich | |
weiter fort. Doch Städte sind in ihrer heutigen Form gigantische | |
Ressourcenfresser, ohne ökologische Nachhaltigkeit. | |
Der Klimawandel wird durch die Wucherung der Megacities angetrieben, die im | |
Gegenzug seine am härtesten betroffenen Opfer sind: durch Wetterextreme und | |
Meeresanstieg. In seinem neuen Gutachten [1][„Der Umzug der Menschheit“] | |
nimmt der [2][Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU)] | |
der Bundesregierung die besorgniserregende Entwicklung in den Blick und | |
macht Vorschläge, wie die „transformative Kraft der Städte“ | |
zukunftsverträglicher genutzt werden könnte. | |
Die Dimensionen, die Experten erwarten, sind bedrückend. Von den inzwischen | |
über 7 Milliarden Menschen auf der Erde werden 2 bis 3 Milliarden innerhalb | |
weniger Jahrzehnte in die Städte drängen. Die größte Migrationsbewegung in | |
der Menschheitsgeschichte hat begonnen. | |
„Die Wucht der derzeitigen Urbanisierungsdynamik und ihre Auswirkungen sind | |
so groß, dass sich weltweit Städte, Stadtgesellschaften, Regierungen und | |
internationale Organisationen diesem Trend stellen müssen“, so Dirk | |
Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik in Bonn | |
und einer der beiden Leiter der WBGU-Kommission, die sich aus neun | |
Wissenschaftlern zusammensetzt. In den Städten werde sich entscheiden, ob | |
die „große Transformation zur Nachhaltigkeit“ gelingen oder scheitern | |
werde. | |
Schon jetzt leben mehr als 850 Millionen Menschen in unzumutbaren | |
Wohnverhältnissen. Im Afrika südlich der Sahara hausen rund zwei Drittel | |
der Stadtbevölkerung in Slums, in Asien etwa ein Drittel. Und in diesen | |
Weltregionen wird auch 90 Prozent des Wachstums der globalen | |
Stadtbevölkerung erwartet. „Die aktuellen Fluchtbewegungen zeigen, wie | |
schwer es selbst wohlhabenden Staaten fällt, raschen Zuzug in ihre Städte | |
zu bewältigen“, bemerkt die Studie. Wie erst in den ärmeren Regionen? Bis | |
2050 könnte sich die Zahl der Slum-Bewohner um 1 bis 2 Milliarden erhöhen. | |
Das soziale Drama korrespondiert mit der ökologischen Plünderung. Schon | |
heute werden 70 Prozent der energiebezogenen Treibhausgas-Emissionen in den | |
Städten erzeugt. Werden immer neue Siedlungen energieaufwendig mit Zement | |
und Stahl gebaut, setzt allein diese Bautätigkeit bis 2050 so viele | |
Klimagase frei, dass das Pariser 1,5-Grad-Ziel praktisch nicht mehr zu | |
halten wäre. „Allein China hat zwischen 2008 und 2010 mehr Zement verbaut | |
als die USA seit Beginn der Industriellen Revolution, in nur drei Jahren“, | |
macht Messner die Dynamik deutlich. | |
„Eine Stadt wie Hongkong in ihrer extremen Verdichtung ist nur lebensfähig, | |
weil sie Erdöl, Metalle, Lebensmittel aus dem Umland und der ganzen Welt | |
aufsaugt, verdaut und die Rückstände wie Müll, Schmutzwasser, Abgase ins | |
Umland ausstößt“, ergänzt Hans Joachim Schellnhuber, langjähriger | |
WBGU-Vorsitzender und Direktor des Potsdam-Instituts für | |
Klimafolgenforschung. | |
Der WBGU-Beirat plädiert daher für einen radikalen Wandel beim Betrieb | |
bestehender und beim Bau neuer Städte. Leitziel müsse anstelle eines | |
Stadtmolochs eine Struktur mit vielen kleineren urbanen Zentren sein: eine | |
„polyzentrische“ Stadtgestalt. Mit neuen Technologien könne dieser Weg | |
gelingen. „Die Dezentralität der Erzeugung erneuerbarer Energien, der | |
Kreislaufwirtschaft und auch etwa der digitalen Ökonomie ermöglicht eine | |
Entdichtung der Städte“, erklärt Schellnhuber und verweist auf Vorbilder: | |
„Die polyzentrische Integration in Regionen wie das sich neu erfindende | |
deutsche Ruhrgebiet oder die San Francisco Bay Area können Modelle für | |
Urbanität der Zukunft sein.“ Die Vorschläge des 500-Seiten-Gutachtens | |
zielen auch auf die UN-Konferenz „Habitat“ (UN-Weltprogramm für | |
Siedlungswesen), die in diesem Jahr zum dritten Mal zusammenkommt. | |
Im Klimabereich fordern die Berater, alle fossilen CO2-Quellen in Städten | |
bis 2070 durch Alternativen zu ersetzen und den Energieverbrauch zu senken. | |
Gerade die städtischen Verkehrssysteme sollten „vollständig dekarbonisiert�… | |
werden. Sei es durch „die Stadt der kurzen Wege mit Durchmischung von Wohn- | |
und Arbeitsviertel“ wie auch durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. | |
## Grünflächen und Kreislaufwirtschaft | |
Auch müsse die „Anpassung an den Klimawandel“ vorangetrieben werden, etwa | |
durch Vorhalt von Grünflächen ohne Bebauung. Nötig sei ferner, eine | |
Kreislaufwirtschaft in den Städten zu etablieren, „nicht nur etwa bei | |
Elektroschrott, sondern auch beispielsweise im Baurecht durch Vorschriften | |
zur Rückbaubarkeit und Recyclingfähigkeit von Gebäuden“, heißt es im | |
Gutachten. | |
Mehr Stadtgrün soll auch helfen, einem Psychoproblem zu begegnen: Städte | |
machen verrückt. Stadtbewohner werden drei mal häufiger psychisch krank als | |
Landbewohner. „Die Verarbeitung der hohen Reizdichte und potenzieller | |
Stressoren in einer Stadt erfordert kognitive Ressourcen, die zu mentaler | |
Ermüdung führen können“, formuliert die Studie im Expertenjargon. Neben der | |
Reduktion von Stressoren sei es daher „für die Lebensqualität in Städten | |
von hoher Bedeutung, ob Erholungsräume vorhanden sind und entsprechend | |
genutzt werden können“. Solche Erholungsräume können Grünräume und urbane | |
„Natur“, aber auch gebaute Umwelten sein. | |
Sowohl Laborexperimente als auch Feldstudien bestätigten den | |
Erholungseffekt von Naturerlebnissen, insbesondere im Zusammenhang mit | |
aktiver Bewegung in der Natur. Dies lasse sich sowohl „subjektiv“ | |
(Wohlbefinden, Abbau von Stress und negativen Emotionen) als auch | |
„objektiv“ (Sinken von hohem Blutdruck, erhöhte Konzentration) nachweisen. | |
Die Humanisierung der Stadt wird offenbar nur mit dem Hereinholen der Natur | |
gelingen.Vergleichsweise randständig werden in dem Gutachten dagegen Fragen | |
der Stadternährung, Urban Farming und kommunaler „Food Policy“ behandelt. | |
Dabei ist das Thema hochaktuell: So hat sich in Berlin in der vorigen Woche | |
ein zivilgesellschaftlicher „Ernährungsrat“ gegründet. | |
Im Kapitel „Urbane Gesundheit“ wird zwar als eine der großen | |
Herausforderungen die Ausbreitung ungesunder Lebensstile und Gewohnheiten – | |
„vor allem ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung“ – genannt. | |
Empfehlungen werden aber nur auf dem Level gegeben „Die Stadtbevölkerung | |
sollte zu gesunden Ernährungsmustern und dem achtsamen Umgang mit | |
Lebensmitteln befähigt werden“. | |
## Ein neues Institut | |
Da ist die gesellschaftliche Diskussion der wissenschaftlichen Expertise | |
eindeutig voraus. Vielleicht ist es auch ein Thema für ein künftiges | |
„Max-Planck-Institut für urbane Transformation“, dessen Gründung der WBGU | |
vorschlägt, um die Forschung weiter voranzutreiben, sowie die „Einrichtung | |
globaler urbaner Reallabore“. | |
Vor fünf Jahren hatte der Umweltbeirat sein Gutachten [3][„Welt im Wandel – | |
Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“] vorlegt. In der | |
Rückschau ist es für Schellnhuber „das erfolgreichste WBGU-Gutachten, das | |
die Nachhaltigkeitsdebatte seit Jahren prägt“. Die jetzige Studie zur | |
Urbanisierung verstehe sich auch „als Fortsetzung und Übertragung des | |
Themas Transformation auf die Städte“, erklärt der Klimaforscher weiter. | |
Eine Erwartung richtet sich auch an die deutsche Bundesregierung, die im | |
Rahmen ihrer G-20-Präsidentschaft 2017 das Thema Urbanisierung und | |
Transformation auf die Tagesordnung setzen sollte. Als politisches Ziel | |
schlägt der WBGU vor, das [4][UN-Programm für Siedlungswesen (UN-Habitat)] | |
zu reformieren und so zu stärken, dass es „mindestens auf Augenhöhe“ mit | |
Programmen wie dem Umweltprogramm Unep agieren könne. | |
1 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2016-urbanisierung/ | |
[2] http://www.wbgu.de/ | |
[3] http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation/ | |
[4] http://unhabitat.org/ | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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