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# taz.de -- Jochen Distelmeyer auf Tour: Die Rückkehr des verlorenen Sohns
> Der Sänger Jochen Distelmeyer gibt ein Konzert im Hamburger Knust. Er
> spielt Coverversionen von Britney Spears und Supertramp.
Bild: Kommt mit Kitsch und Schmalz ungestraft durch: Jochen Distelmeyer
Free as a bird – wie ein Vöglein so frei schwebt Jochen Distelmeyers Stimme
am Ende von der Bühne herab und hinweg über die Köpfe all der
Mittvierziger, die sich im ausverkauften Hamburger Knust kuschelig
zusammendrängen. Ach, diese verführerische Stimme! Man horcht ihr als
Verfallener sehr sehnsüchtig nach, selbst dann noch, als der Sänger sich
längst schon mit gebührend tiefer Verbeugung aus dem Scheinwerferlicht
verabschiedet hat.
Für die Nachgeborenen sei es kurz erwähnt: Jochen Distelmeyer hatte
einstmals mit seiner Band Blumfeld der Stadt Hamburg eine neue
popkulturelle Blüte beschert. Als Songwriter war er damals zuständig
gewesen für all die komplizierten Fragen des richtigen Lebens im falschen.
Dann allerdings, irgendwann nach der Auflösung von Blumfeld, war er wie ein
x-beliebiger Hipster nach Prenzlauer Berg verloren. Er schrieb dort den von
der Kritik hämisch aufgenommenen Roman „Otis“, die Geschichte einer
modernen Odyssee, und er wurde selbst, Odysseus gleich, von Sirenen wie
Britney Spears oder Lana Del Rey heimgesucht.
## Himmlische Kopfstimme
Dieser Jochen Distelmeyer, 48 Jahre alt inzwischen und auf der Bühne noch
immer die charismatischste Erscheinung mindestens seit David Bowie, kehrte
nun also zurück. Während seiner ausgedehnten Solotour machte er für einen
Abend mit Akustikgitarre und dem Keyboarder Daniel Florey Station an der
Elbe und sang so betörend und beseelt, wie er es selten zuvor getan hat:
von toxischen Anfechtungen und liebeskranken Viellesern, von Videospielen
und schwarzäugigen Engeln. Und mit himmlischer Kopfstimme auch davon, dass
es doch eine feine Sache wäre, sich frei zu fühlen wie ein Vogel.
„Free as a Bird“, der vor 20 Jahren von den Rest-Beatles posthum
aufgeplusterte Lennon-Song, stand am Ende eines ziemlich kunterbunten,
ziemlich tollen, ziemlich lässigen Abends. Distelmeyer als lebende Jukebox
präsentierte nämlich nicht nur die wilde Mixtur seines Coveralbums „Songs
from the Bottom Vol. 1“ mit Liedern von Nick Lowe, Roddy Frame oder den
schon erwähnten Britney Spears und Lana del Rey. Sondern gleich dazu – noch
ein bisschen wilder – Volume 2: „Tragedy“ von den Bee Gees war da zu hör…
oder „Take the Long Way Home“ von Supertramp.
Bee Gees? Supertramp? Der Mann traut sich was. Bei jedem anderen Sänger mit
solch respektabler Vergangenheit würde das ein Naserümpfen provozieren;
Distelmeyer kommt damit ungestraft durch.
## Ein Netz aus Referenzen
Wie Rainer Werner Fassbinder in den 1970ern etwas Ungesehenes in
imagetechnisch eigentlich erledigten Schauspielern wie Karlheinz Böhm oder
Brigitte Mira aufspürte, so entdeckt Distelmeyer unter der Oberfläche der
marktgängigsten Popstücke eine Art unerhörter Songseele. Die legt er for
the sake of the song frei; jedes Lied, das er singt, verwandelt sich in ein
eigenes.
In Hamburg wird dieser Aneignungsprozess fast körperlich spürbar:
Distelmeyer knöpft sich das fremde Material nicht vor, sondern schlüpft
hinein; und er adelt es durch seine schmeichelnde, schwebende Stimme. Aus
BritneySpears’ „Toxic“ wird so eine Bluesnummer aus dem Mississippidelta;
aus Aviciis „I Could Be the One“ ein ambienthafter Folktrack; Al Greens
„Let’s Stay Together“ allerdings bleibt die geschmeidige Soulnummer von Al
Green. Ob Seals „Killer“ oder Wilcos „A Shot in the Arm“, ob ein
Steely-Dan-Zitat hier und ein Dylan-Zitat dort – das ganze Konzert ein
wunderbares Netz aus Referenzen und Lieblingsliedern.
## Lange Zugabe
Er sei heute ziemlich auf Humor gebürstet, verkündet Distelmeyer zu Beginn
der Show. Das gilt allerdings nur für die Überbrückungsgags während des
Gitarrestimmens. Wenn er singt, ist es mit Humor und Ironie nicht weit her:
Ernsthaftigkeit und Soulfulness regieren auf schönste Weise. Das gilt auch
für den langen Zugabenteil, eigentlich ein zweites Set: Eigenkompositionen
aus verschiedenen Phasen, von „Ich – Wie es wirklich war“ über „Tausend
Tränen tief“ bis „April“.
Der Jubel ist da längst so enthusiastisch wie die Rührung groß – die
Hamburger Homies haben Jochen Distelmeyer seinen Wechsel in die Hauptstadt
verziehen, und weil sie ihn vermissen, gleich noch mal im September ins
Knust zu einem Zusatzkonzert eingeladen. In viele andere deutsche Städte
führt seine Odyssee glücklicherweise auch.
11 Apr 2016
## AUTOREN
Ulrich Rüdenauer
## TAGS
Pop
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