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# taz.de -- Neues Soloalbum von Jochen Distelmeyer: Zeit zu schmachten
> Jochen Distelmeyer veröffentlicht „Gefühlte Wahrheiten“. Seine Musik
> bleibt unentschieden zwischen luftigem Kunstpop und
> Singer-Songwriter-Ambitionen.
Bild: Immer noch ein Ereignis: Jochen Distelmeyer in goldener Jacke
Unschuldige Stille? Das Motiv der Erschaffung der Welt, auf den
Außenflügeln des Altars von Hieronymus Bosch, einst im herzoglichen
nassauischen Palast in Brüssel aufgestellt, ist heute im Prado in Madrid zu
erleben. Der von der wissenschaftlichen Wende geprägte Blick interpretiert
an Boschs gemaltem Erwachen der Erde den Käfig des unaufgeklärten Denkens.
In den frühen 1990ern prangerten die Bands der Hamburger Schule in ihren
Texten falsches Denken an, hier wurde [1][Jochen Distelmeyer] mit der Band
Blumfeld bekannt, bis seine Texte, weniger aufgebracht, begannen, das Leben
zu beobachten: so mancher der akademischen Gefolgschaft vermisste dann
„Relevanz“. Verspricht Distelmeyer neues Soloalbum „Gefühlte Wahrheiten�…
ein Zurück zum Ursprung?
Pianoharmonien über dem nachdenklichen Beat sagen: „Sei nicht allzu
besorgt“. 13 Jahre hat sich [2][Jochen Distelmeyer] für ein zweites
Soloalbum, basierend auf eigenem Material, Zeit gelassen. „Nicht einfach
so“ tönt das Echo der Klänge.
## Glanz in den Augen
Doch wohin es sie zieht, das bekunden die perkussiven Akzente, ein Zitat
aus Dennis Edwards Verführungsopus „Don’t look any further“, welche nun
gleich den letzten, nach einem Regenschauer von einer Markise rinnenden
Tropfen ihre Akzente setzen. „Schick mir den Glanz in deinen Augen“, sehnt
Distelmeyer, „Lass uns gehen und komm mit mir“, kommentiert der
Backgroundchor, derweil sich aus Gitarrenklängen die grauen Wolken eines
neuen Unwetters auftürmen.
Plötzlich scheint der Wunsch nach Flucht als Kern alles Gesagten, fort zu
etwas Besserem, also doch die ewige Sehnsucht von politisiertem Hamburger
Indiepoprock? Nein, das Zurück ist anderer Qualität, rar in der deutschen
Popmusik; Distelmeyer besingt Erfahrungen, für die bisher nur [3][Timo
Blunck] Worte und Ausdruck fand. Die Zartheit des Pianos im zweiten Stück
umspielt instrumentale Eleganz; da erwacht aus dem Schmachten die
Verletzung.
„Zurück zu mir“ ein Trennungsstück trotziger Gesinnung, die innere Freihe…
beschwörend, der Ausbruch aus der Himmelskuppel, die es umkreisenden Songs
gleich mitverortend, in ein Szenario aus Ende und Neuanfang. Nochmals
meldet sich der Chor, Distelmeyer widerspricht ihm selbstbewusst: Es ist
Zeit zu schmachten.
## Dylaneskes Hadern
Nur eines schmachtet in diesen charaktervollen Songs nicht, sorgt beständig
für wache Distanz: Distelmeyers Stimme. Unwillkürlich denkt man beim bald
55-jährigen Künstler an den mit seiner stimmlichen Prägnanz hadernden
[4][Bob Dylan]. Doch der hatte in Distelmeyers Alter seine Stimme derart
ramponiert, dass ihm sein Deklamieren gar nicht mehr glücken konnte.
Mit „Time out of Mind“ vermochte [5][Dylan] 1997 gerade, die gealterte
Postpunk-Generation hinter sich zu scharen, und erläuterte seinen treuen
Fans, den damals modischen Begriff „Americana“, um ihnen das neue „Echte�…
zu präsentieren. Im Hang zu langen Songs, überlangen mit erzählendem
Charakter gar, sowie in der poetischen Verknüpfung von Persönlichem und
Allgemeinem ähneln sich beide künstlerischen Comebacks sogar.
Anders als Dylans erdige Songs ziehen Distelmeyers Lieder leichter und
luftiger ihre Bahnen. Eine orientierungslose Affäre in „Hey Dear“: „War …
so kalt, dass dir mein Feuer gefiel“, fragt der Song. Durch das am
neapolitanischem Pop der Achtziger geschulte Stück „Im Fieber“ wuchert die
Erinnerung an bohrende Fragen, gleich der Brautmyrten im Park Virgiliano,
„Was war mit uns“ will es wissen, während es sich in Fantasien der Liebe
Rückkehr ergeht.
## Sehnsuchtsvolles Jauchzen
Sogar Distelmeyers Stimme reißt es nun mit, so weit sie kommt. In „Tanz mit
mir“ pulsiert der Beat warm und dezent, Midnight Love verheißend, derweil
rhythmische Akzentuierungen, ja sogar ein sehnsuchtsvolles Jauchzen eine
Innigkeit erwirken, jenseits dessen, was nasales Pressen stimmlich
eigentlich gestalten kann.
Nach der Hälfte prägt nicht das Keyboard, sondern die akustische Gitarre
den Sound. In „Nur der Mond“ singt Distelmeyer schwierige Passagen, bewusst
an ihnen scheiternd, der Reiz in der Differenz? Oder jener Starrsinn, der
ihn nun, im uns verborgenen Triptychon von Boschs Altar, auf der Suche nach
dem Paradies durch den Garten der Lüste und die Hölle irren lässt?
Seine Suche führt ihn in ein anderes US-Idiom, drei auf englisch gesungene,
vom Country der Outsider geprägte Kompositionen. „Gone Girl“ ist leider
nicht die erhoffte Version des Jack-Clement-Originals, doch wie der
melodische Irrgarten der Strophe zum ergreifenden Refrain geleitet,
geradezu gleichwertig.
## Geständnis und Eingeständnis
„Gefühlte Wahrheiten“ zeichnet aus, dass jeder Song seine eigene
Dringlichkeit besitzt, jeweils eigenen Charakter entwickelt und sich dem
eigenen Leben anbietet. „Manchmal“ erscheint als zweites Themenstück, läs…
einen das Drama der anderen Songs einordnen, eine reduzierte
Country-Mondscheinballade, Geständnis und das Eingeständnis der eigenen
Verlorenheit nach der Trennung.
Was das leicht Flirrende der von Aufbruch und Leidenschaft kündenden
Stücke bereits erahnen ließ, hier wird es benannt als das, was es ist:
eine Ausflucht. „Manchmal wenn ich nicht weiter weiß“, so beginnt der
Refrain. Dann verwindet in der epischen Odyssee von „Nicht einsam genug“
das Private mit dem Blick auf die Gesellschaft: Der Titel fungiert stets
als Diagnose. Derweil das Finale „Ich sing für dich“ den wirklich Einsamen
adressiert. Fast gehemmt, vorsichtig und etwas hölzern ist sein Zuspruch
für jene, die nicht genau benannt werden.
Kein Vergleich zu der Litanei von zumindest an ihren Träumen und zumeist
auch am Leben Gescheiterten, die der Brite Kevin Rowland mit Dexys Midnight
Runners vor 40 Jahren in „I’ll show you“ aufzählte. Immerhin singt
Distelmeyer für jene, die des Zuspruchs bedürfen, ohne sie nach ihrer
Gesinnung zu befragen.
## Mehr als die überhebliche Rechtschaffenheit
Es ist heute schon viel getan, wenn man für etwas anderes singt als die
eigene überhebliche Rechtschaffenheit. Und dann, am Ende des Songs versteht
man: Er singt für sie. Wie klingt das gebrochene Herz, warum sitzt der
Schmerz tiefer als noch mit 35? In was für eine Welt blicke ich? Große
Fragen, inszeniert und illustriert durch wirkliche Songs. Wenn Distelmeyer
in ihnen am Ende des Albums die Instrumentalpassagen mitsingt, befreit er
tatsächlich seine Stimme, er findet sich, aber die Pforten zum Paradies
bleiben verschlossen.
2 Jul 2022
## LINKS
[1] /Jochen-Distelmeyer-auf-Tour/!5293897
[2] /Jochen-Distelmeyer-ueber-Rollenklischees/!5275411
[3] /Roman-vom-Palais-Schaumburg-Bassisten/!5488261
[4] /80-Jahre-Bob-Dylan/!5767841
[5] /Bob-Dylan-wird-80/!5773737
## AUTOREN
Oliver Tepel
## TAGS
Jochen Distelmeyer
Neues Album
Singer-Songwriter
GNS
Hamburger Schule
Pop
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