| # taz.de -- Honorare in der freien Bildung: Vom Ehrenamt kann man nicht leben | |
| > Das Netzwerk prekäres Wissen veröffentlicht die realen Stundenlöhe von | |
| > Freiberuflern. Die liegen selbst bei Gewerkschaften oft unter dem | |
| > Mindestlohn. | |
| Bild: Mit ihren eigenen sozialpolitischen Forderungen nehmen es die Gewerkschaf… | |
| Berlin taz | „Demokratie und Zukunft“ heißt ein Projekttag, den die | |
| DGB-Jugend Berlin Brandenburg für SchülerInnen der Klassen 9 bis 12 | |
| anbieten. Die Jugendlichen diskutieren einen Tag lang, was Mitbestimmung | |
| bedeutet, wie man sich politisch einbringen kann und was man gegen unfaire | |
| Chancenverteilung in der Gesellschaft tun kann. Angeleitet werden sie an | |
| diesem Tag von jungen Seminarleiterinnen, die die Gewerkschaft für diesen | |
| Zweck ausgebildet und eingekauft hat. Sie bekommen 150 Euro für einen | |
| Projekttag wenn sie allein sind, zu zweit sind es 80 Euro. | |
| Für die SchülerInnen ist der Projekttag kostenlos – für die | |
| SeminarleiterInnen ist er oft nicht kostendeckend. Für ein eintägiges | |
| Seminar inklusive 10 Stunden Vor- und Nachbereitungszeit springt für sie | |
| ein Stundensatz von 5,52 Euro heraus. Dieser liegt deutlich unter dem von | |
| den Gewerkschaften eingeforderten Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. | |
| Diese und 60 weitere Beispiele für die Bezahlung bei Bildungsträgern und | |
| Wissenschaftsinstitutionen hat das vor zwei Jahren gegründete [1][Netzwerk | |
| Prekäres Wissen im März auf seinem Blog veröffentlicht.] Die InitiatorInnen | |
| haben sie vertraglich vereinbarten Honorare der FreiberuflerInnen | |
| zusammengetragen und erhoben zudem, wie viel Arbeitsaufwand hinter den | |
| jeweiligen Aufträgen steckt. So ermittelten sie neben dem offiziellen | |
| Honorar, den tatsächlichen Bruttostundenlohn. Einige Tätigkeiten, etwa | |
| Lehraufträge an Universitäten wurden überhaupt nicht vergütet, in mehr als | |
| zwanzig Fällen lag der tatsächliche Stundenlohn unter dem Mindestlohn. | |
| Die Beispiele entsprächen den in der Branche üblicherweise gezahlten | |
| Honoraren, erklärt Peter Ullrich, einer der Gründer der Initiative, der an | |
| der TU Berlin über soziale Bewegungen forscht. „Die Honorarpraxis in der | |
| Bildungsarbeit ist teilweise skandalös. Das Grundproblem gerade bei | |
| Organisationen, die sich auf der richtigen Seite wähnen ist, dass sie ihre | |
| eigenen sozialpolitischen Forderungen nicht auf sich selbst anwenden.“ | |
| ## Aufwandsentschädigung oder Broterwerb | |
| Das weisen die gewerkschaftlichen Bildungsträger natürlich zurück. Die | |
| ReferentInnen seien nicht in einem Beschäftigungsverhältnis mit der DGB | |
| Jugend Berlin-Brandenburg, antwortet die zuständige | |
| Bezirksjungendsekretärin Christin Richter auf Anfrage. „Sie sind | |
| Ehrenamtliche im Rahmen unseres Bildungssystems.“ Das Honorar ist diesem | |
| Verständnis nach auch kein existenzsicherndes Einkommen, sondern lediglich | |
| eine Aufwandsentschädigung. | |
| Das mag früher so gewesen sein, als die linke Bildungsarbeit noch | |
| hauptsächlich von Menschen geleistet wurde, die sich in sozialen Bewegungen | |
| organisierten und ihr Wissen unentgeltlich weitergaben. Doch die kritische | |
| linke Bildungsarbeit habe sich genau wie die gesamte Bildungsbranche | |
| professionalisiert, kritisiert Miriam Pieschke die Haltung der | |
| Gewerkschaften. Pieschke, die heute als Referentin bei der der Linkspartei | |
| nahe stehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet, war viele Jahre selbst in | |
| der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. „In immer mehr | |
| Bereichen versuchen Soloselbstständige von dieser Arbeit zu leben“, | |
| berichtet sie. Die Auffassung der Bildungsträger, es handele sich um | |
| ehrenamtliches Engagement werde der tatsächlichen Lage daher nicht mehr | |
| gerecht. | |
| Allerdings hat Pieschke auch Verständnis für die Bildungsträger. Denn viele | |
| Einrichtungen müssten sich aus knappen öffentlichen Gelder finanzieren und | |
| kämpften selbst um ihre Existenz. Für Projekte, die aus öffentlichen | |
| Mitteln gefördert werden, gelten zudem die Vorgaben der öffentlichen | |
| Mittelgeber. | |
| ## Die gleichen Höchstsätze seit zwanzig Jahren | |
| Darauf verweist auch DGB-Jugendsekretärin Richter. So werden die | |
| Projekttage an Schulen vom Berliner Senat und vom Brandenburgischen | |
| Jugendministerium bezahlt. „Kritisch sehen wir, dass die | |
| [2][Honorrichtlinie des Landes Brandenburg] seit 1997 gilt und die | |
| Höchstsätze seitdem nicht erhöht wurden“, schreibt sie. Die | |
| SeminarleiterInnen, die SchülerInnen über gesellschaftliche Teilhabe | |
| aufklären sollen, sind demnach in der zweiten von fünf möglichen | |
| Qualifikationsstufen eingeordnet, und zwar unabhängig davon, ob sie | |
| studiert haben und wieviel Berufserfahrung sie mitbringen, und sollen einen | |
| Stundenlohn von maximal 16 Euro bekommen. Die DGB-Jugend sei für eine | |
| Erhöhung der Höchstsätze, so Richter. „Denn gerade in der aktuellen | |
| politischen Situation ist eine angemessene finanzielle Ausstattung der | |
| politischen Jugdenbildungsarbeit mehr als notwendig.“ | |
| Politischer Druck ist also gefragt, aber haben die Bildungsträger gar keine | |
| eigenen Spielräume? Offenbar doch. Verdi-Gewerkschaftssekretär Günter | |
| Gordon erklärt, dass der Tagessatz von 100 Euro, welcher in der auf | |
| „prekäres Wissen“ veröffentlichten Tabelle zufolge für die Leitung eines | |
| sechstündigen Seminars zur politischen Bildung gezahlt wurde, inzwischen | |
| nicht mehr aktuell sei. Die Sätze würden mit den Teamenden individuell | |
| festgelegt. „Wir selbst gehen bei Tagessätzen auch nicht mehr unter 150 | |
| Euro.“ Inzwischen gebe es auch Beschlüsse aus dem Gewerkschaftsrat, die für | |
| durch ver.di durchgeführte Seminare einen weitaus höheren Tageshonorarsatz | |
| als 100 Euro vorschrieben. | |
| Allerdings: auch ein Tagessatz von 150 Euro schmilzt schnell, da die | |
| FreiberuflerInnen von dieser Summe noch die vollen Beiträge für die | |
| Sozialversicherung abzweigen müssen. „Von wenig Geld bleibt oft wenig | |
| übrig“, schlussfolgert die Initiative Prekäres Wissen. Man erhoffe sich | |
| eine breite öffentliche Diskussion über die Arbeitsbedingungen von | |
| FreiberuflerInnen im Bildung- und Wissenschaftsbetrieb. | |
| 24 Mar 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://prekaereswissen.files.wordpress.com/2014/03/report-2016-03-07.pdf | |
| [2] http://konzeptkontor.net/dotnetnuke/Portals/0/SitePics/LJR/Antraege_Formula… | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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