Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Kein Elefant auf den Schultern
> Fremder Tod: Die sehr persönliche Geschichte meines alkoholischen Lebens
> – garantiert ohne jede Panik.
Als mein Vater vor einigen Jahren im Sterben lag, hatte sich neben ihm ein
Kätzchen eingerollt. Wie ein Elefant aufgepumpt mit Cortison und Morphium,
konnte er sich nicht mehr bewegen. Seine Augen freuten sich, mich zu
erkennen, und sie lächelten, als er die Katze bemerkte.
Auf der Rückfahrt vom Hospiz, das wie die Irrenanstalten und Gefängnisse
auf dem flachen Land so weit wie möglich von den Lebenden entfernt
angesiedelt war, lief im Autoradio „Delmenhorst“. Sven Regener besang die
unfassbare Leere der Provinz in einem grandios gedimmten Refrain: „Hinter
Huchting ist ein Graben, / der ist weder breit noch tief, / und dann kommt
gleich Getränke Hoffmann. / Sag Bescheid, wenn du mich liebst.“
Kurz nach meinem letzten Umzug eröffnete Getränke Hoffmann um die Ecke eine
Filiale. Ich jubelte. Als ob das Einwohnermeldeamt ihnen Bescheid gegeben
hätte. Endlich eine nahe Quelle. Nach einiger Zeit stellte ich verblüfft
fest, dass der freundliche Mann hinterm Tresen irgendwie meinem Vater
ähnelte, obwohl er offensichtlich schwul war. Insgeheim war der
Getränkemann nämlich Schriftsteller. Neben der Kasse wurden zwei im
Selbstverlag herausgegebene Romane angeboten.
## Getränkemann als Dichter
Eine kurze Recherche ergab, dass er tatsächlich der Romanautor war und in
seiner Freizeit für sein Leben gern Erzählungen, Satiren und Gedichte
schrieb. Seinen Werdegang und seine Werke präsentierte er im Internet mit
einer rührenden Mischung aus Stolz und Enthusiasmus, die leider in einem
krassen Missverhältnis zum Resultat stand.
Mein Vater war ein talentierter Erzähler. Er konnte Familiengeschichten mit
sagenhaft getimtem Witz präsentieren – allerdings nur mündlich. So
berichtete er gern von seinem Urgroßvater, der als Zollbeamter Brennereien
inspizierte. Von Uerdinger bis Underberg klapperte der steife Preuße mit
seinem Fahrrad den Niederrhein ab und verplombte die staatlichen
Alkohollieferungen. Dabei musste er stets mindestens ein Gläschen der
Hausmarke zu sich nehmen, sodass er die Nacht oft im Graben verbrachte und
mit platten Reifen, arg zerzaust, heimwärts strunkelte. Wir schmissen uns
als Kinder jedes Mal weg.
Alle Versuche aber, diese Geschichten in schriftlicher Form festzuhalten,
scheiterten. Denn dann bemühte sich mein Vater, die leicht dahingeworfenen
Anekdoten schwer zu heben. Schriftsprache war für ihn etwas Besonderes.
Irgendwo im Hintergrund hustete Goethe und verklebte die ursprünglich
reizvollen Dönekes zu einem seltsam pathetischen Brei. Im Schlechtschreiben
nahmen sich mein Vater und der Getränkemann nicht viel.
Hatte mein Ururgroßvater die alkoholischen Körner in der Familie gesät,
waren sie bei meinem Vater voll aufgegangen. In jungen Jahren war er
Teilzeitalkoholiker – mit allem Trubel: einer gescheiterten Ehe,
beruflichen und anderen Katastrophen. Einmal kam er mittags besoffen aus
seiner Stammkneipe, stellte einen Topf Suppe auf den Herd und schlief ein.
Zum Glück bemerkte ich vor dem Haus den aus dem gekippten Küchenfenster
aufsteigenden dunklen Rauch.
Mit fünf, sechs Jahren begleitete ich ihn erstmals zum Frühschoppen, und
ich liebte es, in der „Post“ zu flippern, während ich die Schnurren vorm
Zapfhahn belauschte. Wie Heinz von der Post sich einmal allein ein Hemd
kaufen ging, es seinen Saufkumpanen – froh darüber, dass er überhaupt etwas
gefunden hatte – vorführte und aus der Verpackung zog, als ein zweites
Stück Stoff herausfiel. „Ach, guck mal!“, strahlte Heinz, „da ist ja noch
ne Hose dabei!“ Er hatte sich kein „Oberhemd“, sondern einen Schlafanzug
gekauft, die Schlafmütze!
In der peinlichen Pubertät nahm ich die obligatorischen Selbstversuche vor.
Aus Scham darüber trank ich ein Jahr lang keinen Tropfen. Stattdessen
konzentrierte ich mich während der Studienzeit auf alle anderen Drogen der
Welt, bis auch das zu uninteressant wurde. Und wer bislang eine dieser
modischen Suchtbeichten erwartet hat, den muss ich nun endgültig
enttäuschen. Ich gehe nur selten in Lokale und trinke wenig zu Hause.
Stattdessen bin ich Alkoholiker der etwas anderen Art: Ich sammle
hochwertige Flaschen. Seit ich vor zwanzig Jahren in Porto war und die
Kellerei von Sandeman besucht habe, horte ich im Keller exquisite Vintage
Ports. Zudem besitze ich massenweise Obstbrände – auch weil Freunde von
meiner Sammelleidenschaft wissen und mir rare Sorten mitbringen. Die
weitest gereiste Flasche ist ein „Mango Port“ aus Australien.
## Image als Alkoholiker
Der ungenießbarste Stoff ist ein Affenbrotbaumschnaps aus Portugal und der
teuerste eine „Vinschgauer Williams-Christ Birne“ von Stählemühle, Jahrga…
2012, Literpreis satte 242,86 Euro. Beide sorgen stets für ein großes
Hallo, wenn ich – selten genug – Freunde zu einer „Trinkprobe“ einlade,…
die ich mich aber herantrainieren muss. Der Rekord liegt bei 17 Gläsern an
einem Abend – ungelogen!
Gelogen jedoch sind sämtliche Promillewerte, die fast täglich in meinen
Texten auftauchen und mit denen ich mir irrigerweise ein solides Image als
Alkoholiker zusammengeflunkert habe. Besonders berüchtigt sind dabei die
gern gelesenen Abstürze mit dem trinkfesten irischen Korrespondenten, der
manchmal nur dafür eingeflogen zu werden scheint, um sie
öffentlichkeitswirksam zu inszenieren. Auch deshalb kann es passieren, dass
ich, der ich ausnahmsweise zweimal im Jahr nach der Arbeit im
betriebseigenen Café ein Frisches nehme, von einer Kollegin angesprochen
werde: „Du bist auch jeden Abend hier!“
Ich könnte gar keine Suchtbiografie schreiben, weil ich viel zu langweilig,
aber auch zu hart gegenüber mir selbst bin – anders als diese Weicheier von
egoverliebten Popliteraten, die ihre Sucht als Schwäche vor sich hertragen
und einen Wortmüll labernden Ersatzvater mit Hut brauchen, um sich panisch
selbst zu finden. Sie sind auch nicht besser als der dichtende
Getränkemann, der „ich“ auf „mich“ reimt.
Mir sitzt kein Elefant auf den Schultern. Ich hasse neurotische
Suchteskapaden, die doch nur auf Kosten anderer gehen. Selbstzerstörer sind
entsetzlich ernsthaft und übersehen die Ironie in der Devise: „Live fast,
die young!“ Zur Strafe finden sich die Entgifteten mit streichholzdünnen
Beinchen an wahrhaft trostlosen Orten wie zum Beispiel dem Berliner
„Nachsorgecafé Roter Elefant“ wieder.
## Selbstmörder als Popstars
Nur Idioten wollen berühmte Popstars werden und früh sterben. Die Hunter S.
Thompsons dieser Welt vergessen immer, dass sie nach dem Sterben ewig tot
sind. Dann doch lieber ein langes Leben mit Getränke Hoffmann und dem
eigenen Vater, der später weniger und weniger trank und schließlich noch
ein verdammt netter Kerl wurde.
Der Tod soll gefälligst ein Fremder bleiben, den wir nicht kennen und auch
nie kennenlernen wollen. Gerade weil er mit dem brutalen Kater, der nach
jedem Saufgelage am nächsten Morgen über uns kommt, andeutet, wie es sein
könnte, wenn wir aufhören zu sein. Oder man hält es gleich wie der durstige
Franz Kafka, der sich auf dem Sterbebett ein Bier vortrinken ließ, weil er
es selbst nicht mehr konnte. In diesem Sinne: Hoch die Tassen! Cheerio,
Salute, Prost!
2 Apr 2016
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Alkohol
Lebensgeschichte
Pop-Literatur
Ideologie
Heiko Maas
Silvester
Paris
Schwerpunkt Angela Merkel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Der Mann mit der einen Idee
Endlich ist der Tag der Tage gekommen. Die Idee ist akut. Überall in der
Firma sirrt und summt es. Nur einer bekommt es nicht mit …
Die Wahrheit: Auf Du und Du mit jedem Marabu
Nach der Bundestagswahl 2017: Das neue Traum- und Kanzlerpaar Natalia
Wörner und Heiko Maas betört die ganze Welt.
Die Wahrheit: „Ich bin dein Kumpel!“
Das Wahrheit-Interview: Der Düsseldorfer Antänzer Patrick M. über seinen
Beruf, seine Zukunftsaussichten und die Silvestervorfälle.
Die Wahrheit: So Gott wie tot
Normalerweise ist Donnerstag der Gedichtetag auf der Wahrheit: Ein
außerordentlicher Anlass verlangt jedoch nach einer poetischen Antwort auf
satanische Fragen.
Die Wahrheit: Goodbye Merkel
Ein Nobelpreis für das Ostmädchen Angela? Das wäre der Todesstoß für den
angeschlagenen Koloss Helmut Kohl.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.