# taz.de -- Schleuser-Mafia in Ägypten: Das Dorf der Schmuggler | |
> Borg Megheisil sieht aus wie ein ganz normales ägyptisches Fischerdorf. | |
> Doch fast alle Bewohner hier leben von der Schlepperei. | |
Bild: Kasse machen mit der Flucht: In diesem Dorf leben fast alle von dem Schle… | |
Zu den Schleppern geht es entlang verschlungener, holpriger Straßen, | |
eingerahmt von malerischen Dattelpalmenhainen und großen Schilfflächen. Es | |
riecht nach Meer, die Brise schmeckt salzig, am nördlichen Ende des | |
Nildeltas, dort wo der westliche Rosetta-Nil-Arm das Mittelmeer trifft. | |
Hier liegt der Ort Borg Megheisil, ein ganz normales ägyptisches | |
Fischerdorf, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein paar Fischkutter | |
liegen im Sand auf Grund. Andere fahren gemächlich den Nil hoch, die | |
letzten paar hundert Meter Richtung Meer. Auf der Dorfstraße herrscht eine | |
rege Mischung aus Autos, Motorrikschas und Eselkarren. Knatternde | |
Dieselmotoren pumpen das Wasser aus dem Bewässerungskanal auf die | |
benachbarten Felder. | |
Was man auf den ersten Blick nicht sieht: Praktisch das ganze Dorf lebt von | |
der Schlepperei. Fast jeder hier steckt mit in dem Geschäft, vor allem | |
syrische Flüchtlinge über das Meer nach Italien zu bringen. | |
Reda, in ihrer schwarzen, elegant bestickten Abaya, ihrem Umhang, ist so | |
etwas wie die Dorfmatrone. Sie selbst besitzt zwei Boote. Die seien von der | |
Schlepper-Mafia gestohlen worden – das behauptet Reda zumindest. Denn beide | |
Schiffe sind inzwischen von den Behörden konfisziert worden. | |
## Die großen Schlepper | |
Die Bootsbesitzerin redet als eine der wenigen offen über die dunkle Seite | |
des Dorfes. „Die großen Schmuggler, die kennen wir alle beim Namen. Die | |
nutzen die Jugendlichen des Dorfes aus, von denen 95 Prozent im | |
Schlepperhandel arbeiten“, erzählt sie. Eine Überfahrt mit Flüchtlingen | |
nach Italien werfe umgerechnet bis zu 300.000 Euro Gewinn ab. „Da sind | |
Leute im Dorf über Nacht zu Millionären geworden.“ Den eigentlichen Reibach | |
machten die großen Schlepper im Hintergrund und die Bootsbesitzer, erklärt | |
sie. | |
Die Vorgehensweise ist immer die gleiche. „Jeder große Schlepper hat | |
mehrere Vertreter, die die Flüchtlinge zusammensammeln und dann in einem | |
Haus oder in einer Viehscheune zwischenlagern, wie sie das nennen, bis sie | |
sich mit dem Bootsbesitzer einig geworden sind. Dann bringen sie die | |
Flüchtlinge mit kleinen Booten zu größeren. Von dort geht es nach Italien“, | |
berichtet Reda. Vier bis sieben Tage dauert die Reise, entlang der Küste | |
hinüber in libysche Gewässer und dann über das Meer an die italienische | |
Küste. | |
Die lokale Polizei scheint schon längst Teil des Geschäfts, erzählt die | |
Bootsbesitzerin Reda. „Mit Geld kann man alles erreichen. Nehmen wir an, | |
ich bin Polizist und meine Aufgabe ist es, zu sehen, ob du das Gesetz nicht | |
brichst. Aber ich komme, um mir von dir, dem Schlepper, meinen Lohn | |
abzuholen. Wer die Leute vom Staat bezahlt, der kann alles machen und wird | |
niemals zu Rechenschaft gezogen.“ | |
Die großen Schlepper im Ort lassen sich nicht interviewen. Sie scheuen | |
alles, was Licht auf ihre Geschäfte wirft. Aber unten am Strand trifft man | |
die Jugendlichen des Fischerdorfes. Sie sind diejenigen, die am Ende mit | |
den Booten rausfahren. | |
„Ich bekomme für eine Ladung, die ich rüberfahre, umgerechnet 500 Euro“, | |
berichtet einer von ihnen, ein Schüler, der sicher noch keine 18 Jahre alt | |
ist und der seinen Namen nicht in einer Zeitung sehen will. Es sei schwer, | |
weil die Flüchtlinge oft in schlechtem Zustand seien. | |
## Keine Zweifel am Schlepper-Business | |
Aber den jungen Mann mit der Baseballkappe und den Kopfhörern im Ohr plagen | |
dennoch keine Zweifel: „Wenn es wieder eine Gelegenheit gibt, werde ich es | |
wieder machen. Ich warte nur bis die Schule zu Ende geht. In den Ferien | |
geht es dann wieder los. In der Schulzeit bin ich in der Schule, in den | |
Ferien arbeite ich als Schlepper“, sagt er. Die Sache sei ganz einfach, | |
fügt er hinzu: „Entweder du arbeitest hier als brotloser Fischer oder du | |
fährst die Italien-Route.“ | |
In der eine Autostunde entfernten Hafenstadt Alexandria hat sich die | |
Lokaljournalistin Hana’aAbul Ezz in ihrer Arbeit auf Recherchen rund um | |
Flüchtlinge und die Schlepper spezialisiert. Dass die Jungen die Boote | |
steuern, habe System, erklärt sie. „Diejenigen, die auf den Schiffen | |
arbeiten, sind meist unter 18. Wenn das Schiff dann vor Italien aufgebracht | |
werden sollte, dann können sie nur Minderjährige festnehmen. Meist werden | |
sie dann als Opfer behandelt, bekommen einen Flüchtlingsstatus und statt | |
ins Gefängnis werden sie in Italien in die Schule geschickt.“ Aber trotzdem | |
wollten sich die Jugendlichen nicht erwischen lassen, denn für jede Fahrt | |
bekommen sie umgerechnet 500 Euro. | |
Wenn die großen EU-Kriegsschiffe also zur Schlepperbekämpfung durchs | |
Mittelmeer kreuzen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nur ein paar | |
ägyptische Schuljungen aufgreifen. | |
Die Journalistin Abul Ezz hat auch die übliche Vorgehensweise der Schlepper | |
recherchiert. „Die Vertreter der Schlepper-Mafia gehen in die Cafés in | |
Alexandria, in denen sich die syrischen Flüchtlinge aufhalten. Sie sprechen | |
sie an und versprechen ihnen, dass sie ihnen helfen können. Ausgemacht wird | |
dann ein Preis zwischen 3.000 und 3.500 Dollar für die Überfahrt“, erklärt | |
sie. Wann diese beginnt, werde den Flüchtlingen nicht gesagt. Sie bekommen | |
einen Anruf, wo sie sich versammeln sollen. Dort werden sie meist mit einem | |
Bus zu einem entlegenen Ort gebracht und in einem Haus „zwischengelagert“, | |
erklärt Abul Ezz. | |
## Handys werden abgenommen | |
Zuvor würden ihnen vorläufig die Handys abgenommen, damit sie mit niemanden | |
Kontakt aufnehmen können. Wenn die Reise schließlich losgehe, würden die | |
Flüchtlinge überraschend und meist mitten in der Nacht geweckt, zu kleinen | |
Booten an der Küste gebracht und damit zu größeren draußen im Meer | |
gefahren. „Bei den Schleppern sind viele an der Operation beteiligt. Einige | |
sichern den Ort ab, von dem aus es losgeht. Nichts wird dem Zufall | |
überlassen, alles kalkuliert. Auch das Meer wird überwacht. Die wissen | |
genau, wann und wo die Küstenwache langfährt“, sagt die Journalistin. | |
Nicht immer geht das für die Schlepper gut aus, vor allem für jene, die die | |
Boote gesteuert haben und die manchmal doch über 18 Jahre alt waren. | |
Mehrere Familien laden im Dorf in ihre Häuser ein und erzählen, dass ihre | |
Söhne in Italien verhaftet wurden. Andere wurden entlang der Strecke | |
aufgebracht und sitzen in Libyen oder sogar in Tunesien im Gefängnis. | |
„Ich dachte, mein Sohn sei rausgefahren zum Fischen. Dann habe ich gehört, | |
er sei in Italien festgenommen worden“, erzählt dessen Mutter. „Der hat uns | |
ganz schön über den Tisch gezogen“, sagt sie über den Mann, für den ihr | |
Sohn gefahren ist. Von dem habe sie kein Geld gesehen. | |
„Der sollte verhaftet werden. Der organisiert jeden Tag eine neue Tour“, | |
fordert die Frau. „Da drüben nicht weit von hier hat der große Schlepper | |
sein Haus.“ Sie deutet auf ein neues dreistöckiges Haus mit Blick vom | |
Balkon auf den Nil, das zwischen den heruntergekommen Nachbargebäude | |
heraussticht. | |
## Traum vom schönen Haus | |
Es ist auffällig, dass einige der Gebäude im Dorf neu gebaut oder frisch | |
renoviert sind. Diese Häuser seien nicht mit ägyptischen Pfunden, sondern | |
mit den Dollars der Flüchtlinge finanziert, sagt Bootsbesitzerin Reda. | |
„Jeder im Dorf träumt davon, eines Tages auch so ein schönes mehrstöckiges | |
Haus wie der Schlepper zu besitzen.“ | |
Doch der Blick auf die neuen Häuser bringt nur einen Teil des | |
Schlepperreichtums zutage. Die haben ihren Wohlstand längst ausgelagert. | |
„Diejenigen, die als große Schlepper arbeiten, haben Angst, gefragt zu | |
werden, wo sie das Geld her haben. Also bauen sie sich ein Parallelsystem | |
auf“, erklärt die Lokaljournalistin Abul Ezz. Zunächst besäßen sie noch | |
eine zweite große Wohnung in Alexandria. | |
„Sie fahren regelmäßig nach Italien oder Frankreich oder an andere Orte in | |
Europa. Dort haben sie sogar Wohnungen und manchmal eine andere Arbeit.“ Ab | |
und zu kämen die große Schlepper, um ihre Familie zu besuchen, sagt Abul | |
Ezz. „Sie haben ein schönes mehrstöckiges Haus hier, aber ihr wirkliches | |
Leben findet woanders statt.“ | |
Die Zeichen stehen gut, dass die sich noch mehr am Flüchtlingselend | |
bereichern können. „Die Westbalkan-Route ist dicht, Libyen ist zu chaotisch | |
und gefährlich, also wird Ägypten unter den syrischen Flüchtlingen ab dem | |
Frühling wieder Konjunktur haben“, erläutert der auf Flüchtlinge | |
spezialisierte Anwalt Muhammad Said in Alexandria. Aber auch Ägypten | |
verweigert weiteren Flüchtlingen aus Syrien seit letztem Jahr den Zugang | |
ins Nilland, in dem offiziell über 130.000 registrierte syrische | |
Flüchtlinge leben. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich weit höher. | |
„Der einzige Weg für die Syrer, heute nach Ägypten zu gelangen, um von hier | |
dann nach Italien weiterzureisen, der verläuft über den Libanon. Dann | |
fliegen sie in den Sudan, weil sie in Ägypten kein Visum mehr bekommen. Von | |
dort aus gehen sie zu Fuß durch die Wüste, drei, vier Tage lang, bis sie im | |
südägyptischen Assuan ankommen“, sagt der Anwalt. Schließlich geht es | |
weiter nach Alexandria, wo die Syrer von den Schleppern angesprochen | |
werden. | |
## „Lukrativer als der Drogenhandel“ | |
In Borg Megheisil bereiten diese die Kutter für die nächste Ausfahrt vor. | |
Keiner weiß, ob sie nachts zum Fischen oder zum Schmuggeln rausfahren. | |
„Hier haben sie schon alles geschmuggelt“, erzählt Bootsbesitzerin Reda. | |
Politische Dissidenten und Muslimbrüder raus, Waffen und IS-Kämpfer rein. | |
Und natürlich auch Drogen. „Aber das Geschäft mit den Flüchtlingen“, sagt | |
sie, „das ist viel lukrativer als der Drogenhandel.“ | |
Im Dorf der Schlepper gelten eigene Gesetze. Die Schleuser-Mafia gibt den | |
Ton an, während die Jugendlichen davon träumen, eines Tages auch einmal ein | |
so schönes Haus zu haben wie die großen Schlepperbosse. Sicher, sie sind | |
hier fast alle kriminell und in dunkle illegale Geschäfte verstrickt. Aber | |
für die Flüchtlinge sind sie auch ein Ticket – das einzige, dass sie nach | |
Europa bringt. | |
2 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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