| # taz.de -- Museum im Grenzdurchgangslager eröffnet: Geschichte trifft auf Geg… | |
| > Mehr als vier Millionen Menschen sind bisher über das Lager Friedland in | |
| > die Bundesrepublik gekommen. Ein neues Museum dokumentiert die | |
| > Geschichte. | |
| Bild: Ende der 1970er-Jahre kamen die ersten vietnamesischen „Boat People“:… | |
| Friedland taz | Ein Denkmal aus Muschelkalk, vier Meter hoch. Erhobenen | |
| Hauptes tritt der „Heimkehrer“ den Stacheldraht nieder. Gleich gegenüber | |
| liegt der Eingang zum Grenzdurchgangslager Friedland. Auf der anderen Seite | |
| der Barackensiedlung, im historischen Friedländer Bahnhof, ist ein Museum | |
| entstanden, das die über 70-jährige Geschichte des Lagers im Kreis | |
| Göttingen dokumentiert. 20 Millionen Euro kostet der Umbau, der Bund und | |
| das Land Niedersachsen tragen jeweils die Hälfte. An diesem Wochenende wird | |
| das Museum eröffnet. | |
| Im ehemaligen Güterschuppen des Bahnhofs riecht es noch nach Farbe, | |
| Arbeiter verrücken letzte Regale und Vitrinen, montieren riesige Monitore | |
| auf eine eingezogene Zwischendecke. „Dies wird der Eingangsbereich des | |
| Museums“, sagt Kurator Joachim Baur. „Hier können sich die Besucher | |
| anteasern lassen.“ Anteasern? Die Bildschirme werden so programmiert, dass | |
| sie jeden Tag ein anderes Ereignis beleuchten: „Wer beispielsweise gleich | |
| am 20. März zur Eröffnung kommt, erfährt, was im Lager Friedland an einem | |
| vergangenen 20. März passiert ist.“ | |
| Der 26. September 1945 gilt als Gründungsdatum. An diesem Tag meldete der | |
| britische Oberstleutnant Perkins das Lager Friedland arbeitsfähig. Nach dem | |
| Zweiten Weltkrieg herrschten überall in Deutschland Hunger, Chaos und | |
| Verzweiflung. Millionen Flüchtlinge und Vertriebene irrten über die | |
| Straßen, die Versorgung der Menschen mit Kleidung und Nahrungsmitteln sowie | |
| der öffentliche Verkehr waren zusammengebrochen. In dem verschlafenen | |
| Dörfchen Friedland, wo die US-amerikanische, die britische und die | |
| sowjetische Besatzungszone aneinander stießen, ordnete die zuständige | |
| britische Militärverwaltung deshalb die Einrichtung eines Auffanglagers an. | |
| ## Erster Anlaufpunkt | |
| Praktisch über Nacht wurde Friedland zum Anlaufpunkt für Hunderttausende. | |
| Schon bis Ende 1945 war eine halbe Million Menschen durch das Lager | |
| geschleust worden. Zunächst vor allem Vertriebene aus den ehemaligen | |
| Reichsgebieten östlich von Oder und Neiße sowie entlassene Kriegsgefangene. | |
| Als erste Behelfsunterkünfte dienten Schweine- und Pferdeställe auf einem | |
| Versuchsgut der Universität Göttingen. Dann stellte man Armeezelte auf, | |
| errichtete Holzbauten und Wellblechbaracken, die sogenannten Nissenhütten, | |
| benannt nach einem englischen Offizier. | |
| Der Rundgang durch den sanierten Bahnhof ist auch ein Rundgang durch die | |
| deutsche Geschichte. Fotos zeigen ausgemergelte Gestalten, die in den | |
| eiskalten Nachkriegswintern vor der Lagerküche um Essen anstehen. Frauen | |
| und Kinder drängen sich bei eisiger Kälte in den Hütten und Baracken | |
| zusammen. Teilweise nur mit Fetzen bekleidet, laufen die Männer bei | |
| Temperaturen von bis zu 20 Grad unter Null im Freien herum, um nicht zu | |
| erfrieren. | |
| Aber auch freudestrahlende Gesichter sind auf den Bildern zu sehen: Wenn | |
| Mütter und Ehefrauen die über Friedland aus den sowjetischen | |
| Gefangenencamps zurückkehrenden Männer in die Arme schließen. In | |
| Glasvitrinen sind in sowjetischen Gefangenenlagern gebastelte | |
| Gebrauchsgegenstände ausgestellt, Zigarettendosen aus Blech oder | |
| geschnitzte Schachspiele. In einem Regal steht eine Miniatur des | |
| „Heimkehrers“. | |
| Fotos auch als Propaganda: „Friedland war damals wie heute politisch | |
| aufgeladen“, sagt Baur. Die Bezeichnung des Lagers als „Tor zur Freiheit“ | |
| galt auch als Kampfansage an die sozialistischen Länder. Dass unter den | |
| 10.000 letzten Gefangenen, deren Entlassung der damalige Bundeskanzler | |
| Konrad Adenauer (CDU) bei seinem legendären Moskau-Besuch 1955 erwirkte und | |
| die über Friedland in die Bundesrepublik kamen, auch viele | |
| Nazi-Kriegsverbrecher und SS-Leute waren, wurde dagegen lange verschwiegen. | |
| Später fanden auch Flüchtlinge aus dem Ausland vorübergehend Aufnahme in | |
| Friedland. Rund 3.000 Ungarn, die nach dem gescheiterten Aufstand ihr Land | |
| verlassen hatten, erreichten das Lager 1956. In den 1970er-Jahren waren es | |
| verfolgte Pinochet-Gegner aus Chile, „Boat People“ aus Vietnam, Flüchtlinge | |
| aus Albanien. Dann kamen Spätaussiedler aus Polen und den Nachfolgestaaten | |
| der Sowjetunion. Seit 2011 ist Friedland auch Erstaufnahmeeinrichtung des | |
| Landes Niedersachsen für Asylsuchende. Für 700 Bewohner ausgelegt, war das | |
| Lager im vergangenen Sommer mit mehr als 2.000 Menschen dreifach | |
| überbelegt. | |
| ## Überladene Schau | |
| In manchen Räumen wirkt die Schau fast überladen: Foto- und Textcollagen | |
| bedecken ganze Wände. Andere sind von oben bis unten mit alten Karteikästen | |
| dekoriert, von einer Decke hängt ein verschachtelter Schrank aus Glas mit | |
| weiteren Karteikarten – ohne Bürokratie ging es nie. Hörstationen und | |
| Touchscreen-Bildschirme spielen auf Knopfdruck Einzelschicksale ab. | |
| Telegramme, Bilder und noch mehr Fotos dokumentieren die mühselige Arbeit | |
| des DRK-Suchdienstes im Lager. Später sollen auf dem Lagergelände ein | |
| Besucher- und Forschungszentrum sowie eine internationale | |
| Jugendbegegnungsstätte entstehen. Ein Museumspfad soll alle Teile | |
| miteinander verbinden. | |
| „Sieben Sachen“ heißt der Raum unter dem Bahnhofsdach. Zeitübergreifend | |
| sind Gegenstände ausgestellt, die Menschen mit ins Lager brachten, dort | |
| erhielten oder verloren: eine Schallplatte, ein Löffel, eine Comicfigur aus | |
| Plastik, die Unterhose eines syrischen Flüchtlings mit eingenähter | |
| Geldtasche. Ein Handkoffer und ein Pappkarton mit alten Złoty-Scheinen und | |
| abgelaufenem, polnischem Führerschein. | |
| Ganz außen hängt ein verwaschener blauer Bundeswehr-Pullover mit | |
| abgetrenntem Wappen. „Den hat ein chilenischer Kommunist in den | |
| 1970er-Jahren aus der Kleiderkammer bekommen und getragen“, erzählt Baur. | |
| Weil sich seine Genossen aus der linken Szene Göttingens über den | |
| schwarz-rot-goldenen Aufnäher mokierten, „hat er den abgemacht“. | |
| Durch große Fenster fällt der Blick auf den Bahnsteig. Flüchtlinge steigen | |
| aus einem Regionalzug, Kinder schreien, eine alte Frau ächzt unter der Last | |
| eines schweren Rucksacks und schaut nach oben. „An dieser Stelle sieht man | |
| und man wird gesehen“, sagt Kurator Joachim Baur. „Hier trifft Geschichte | |
| auf Gegenwart.“ | |
| 19 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Reimar Paul | |
| ## TAGS | |
| Flüchtlinge in Niedersachsen | |
| Lager | |
| Flüchtlinge | |
| Museum | |
| Spätaussiedler | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlinge in Niedersachsen | |
| Christopher Street Day (CSD) | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Corona-Ausbruch in Friedland: „Tor zur Freiheit“ ist zu | |
| Nach einem Corona-Ausbruch im sogenannten Grenzdurchgangslager Friedland | |
| wird dort niemand mehr neu aufgenommen. | |
| Krankenschwester in Flüchtlingslager: 25 Jahre Flucht nach Deutschland | |
| Angelika Nolte arbeitet seit 25 Jahren im Lager Friedland. Sie berichtet | |
| von Flashbacks, Kulturschocks und Gesichtstätowierungen. | |
| Winter-Unterbringung von Flüchtlingen: Noch immer Zelte als Unterkunft | |
| Mehr als 2.500 Flüchtlinge trotzen der Kälte in Zelten. Im Norden haben | |
| noch immer viele kein festes Dach über ihrem Kopf – in Berlin und Hessen | |
| aber alle. | |
| Unterbringung in Niedersachsen: Kein festes Dach für Flüchtlinge | |
| Niemand soll bei Schnee und Eis in Zelten leben müssen, hatte | |
| Niedersachsens Landesregierung versichert. Doch das Versprechen ist nicht | |
| zu halten. | |
| Flüchtlings-Unterbringung im Norden: Die Kommunen sollen‘s richten | |
| Weil Erstaufnahmen überlastet sind, sollen Flüchtlinge in Niedersachsen | |
| jetzt sofort in Turnhallen statt in unbeheizten Zelten schlafen. | |
| Schleswig-Holstein zeigt, wie es besser geht. | |
| Flüchtlinge im niedersächsischen Landtag: Schaufensterpolitik statt Hilfe | |
| Auf Antrag der CDU debattiert Niedersachsens Landtag über Schutzsuchende, | |
| doch frische Ideen fehlen: Die Christdemokraten fordern schnellere | |
| Abschiebungen. | |
| Parade im Wendland: Wo es kein Zurück gibt | |
| Die schwulen Aktivisten Yartsev und Chunosov flohen aus Russland. Ihr Leben | |
| passte in zwei Koffer. Der CSD im Wendland ist für sie wie ein Heimspiel. |