| # taz.de -- Filmstart „Herbert“: Denken ist was für hinterher | |
| > In „Herbert“ gibt Peter Kurth einen an tödlichem Muskelschwund erkrankten | |
| > Exboxer und Muskelprotz. Ein lohnender Film. | |
| Bild: Hier steht er noch im Ring: Peter Kurth als „Herbert“ | |
| „Pissen okay?“, erkundigt sich der Arzt. „Pissen okay“, grummelt Herbert | |
| (Peter Kurth). Muss aber hinzufügen: „Neulich unter der Dusche, da hat’s | |
| mir die Beine weggerissen. War gleich wieder weg.“ – „Setz mal ’ne Weile | |
| aus mit dem Training. Du musst zum Spezialisten.“ Darauf wieder Herbert: | |
| „Du, Günther, das ist’n Tattrig, oder? Wenn das jetzt so ein Scheiß ist, | |
| so’n Muskelkrebs oder so was, dann gibs’t du mir Tabletten, dann mach ich | |
| weg.“ | |
| Zu Beginn von Thomas Stubers erstem Spielfilm „Herbert“, den er zusammen | |
| mit dem Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer (basierend auf einer Vorlage | |
| Paul Salisburys) geschrieben hat, ist die Welt des Kraftpakets noch in | |
| Ordnung. Das heißt: vor der Sache unter Dusche. Vor dem Tattrig. Herbert | |
| steht im Boxring. In der DDR hatte er einige wichtige Titel geholt, galt | |
| als Hoffnung für Olympia. | |
| Dann ein paar krumme Dinger, Herbert muss in den Knast. „Torgau“ lautet der | |
| Schriftzug, der sich großflächig über die gesamte Schulterpartie erstreckt. | |
| Später verdingt sich Herbert als Schuldeneintreiber. Oder als Securitymann | |
| in Diskotheken. Er ist einer, der nicht lange fackelt. Gibt es irgendwo | |
| Probleme, steckt seine Überlegenheit meist in der Reaktionsgeschwindigkeit, | |
| im Physischen. Denken, wenn überhaupt, ist was für hinterher. | |
| Zwei Orte, an denen Herbert in den ersten Filmminuten anzutreffen ist, die | |
| eine Spanne aufmachen und zwei Extreme markieren: der Boxring und der Platz | |
| vorm Aquarium. Zunächst der Ring, die erste Begegnungsstätte mit Herbert in | |
| „Herbert“. Hier wirkt er dieser Tage als Trainer, von Eddy (Edin Hasanovic) | |
| zum Beispiel, einem aufstrebenden Boxer. Wenig Erbarmen gibt es da. Einmal | |
| möchte der junge Sportler aus dem magischen Viereck treten, wegen seiner | |
| schwangeren Freundin, die unter Schmerzen leidet, er will zu ihr. Die Rüge | |
| Herberts folgt prompt: Ist doch bald Wettkampf! | |
| ## Rundumcheck im Krankenhaus | |
| Der andere Ort: die kleine Wohnung in der Platte, dort, wo das Aquarium | |
| steht. In dem die Amazonasfische schwimmen. Das ist die ruhige Welt, ein | |
| Platz zum Rückzug. Ein bisschen imaginär, wie der Plan, den er gemeinsam | |
| mit seinem Kumpel Specht (Reiner Schöne), dem Tätowierer, träumt: einmal | |
| die Route 66 fahren. Aber bei Thomas Stuber wird anders gefahren. Keine | |
| Route 66 entlang. „Herbert“ ist eine Abfahrt. | |
| Als sich die körperlichen Ausfälle häufen, Herbert bei seinem Dienst in der | |
| Disco auf der Toilette zusammenklappt, geht es zum Rundumcheck ins | |
| Krankenhaus. Stück für Stück zeigt Stuber dann die Entblätterung dieses | |
| Kerls, der noch im Herrenjackett ins erste Behandlungszimmer gekommen war. | |
| Dann steht er plötzlich im Unterhemd da und, schließlich, fährt man ihn, in | |
| diesen typischen, kleingemusterten Krankenhaus-Hängerchen, in den | |
| Kernspintomografen. | |
| Die Diagnose ist schlecht: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS. Tödlicher | |
| Muskelschwund. Big Herbert. Und Muskelschwund. Sechzehn Kilogramm | |
| Muskelmasse hat sich der Schauspieler Peter Kurth für seine Rolle | |
| antrainiert. Sechzehn Kilogramm, die im Laufe von „Herbert“ wieder | |
| verschwinden. Das erinnert etwas an Andreas Dresens „Halt auf freier | |
| Strecke“ von 2011. | |
| Nicht wegen der Muskeln. Sondern wegen der ausweglosen, tragischen | |
| Situation, die sich der Film zum Thema gemacht hat. In „Halt auf freier | |
| Strecke“ war es ein Hirntumor, unter dem sich das Leben von Frank (Milan | |
| Peschel) zu beugen begann. Und das von Familien und Freunden gleich mit. | |
| Bis dann, am Filmende, wirklich haltgemacht hat, das Leben. Auch „Herbert“ | |
| kennt sein Ziel. Und trotzdem ist Stubers Film eher ein Zurückfahren auf | |
| einer Strecke, die zuvor vielleicht zu schnell, zu unachtsam gefahren | |
| wurde. | |
| ## Emotionale Schulden | |
| Denn Schuldeneintreiber Herbert hat Schulden gemacht. Keine monetären. Aber | |
| emotionale. Besonders bei den Frauen. Zum einen bei Tochter Sandra (Lena | |
| Lauzemis), die mittlerweile selbst eine Familie hat und mit Partner und | |
| kleiner Tochter nicht weit von Herbert lebt, irgendwo in Leipzig, ebenfalls | |
| Platte. Und bei Marlene (Lina Wendel). Einer Dame. Aber einer mit Schneid. | |
| Und mit langem Atem. | |
| Als Herbert einen Stock zum Gehen braucht, und der ohnehin schon schwer | |
| verständliche, hingenuschelte Dialekt kryptisch zu werden beginnt, sucht er | |
| ihre Nähe. Er, der sie in der Vergangenheit häufig, und nicht selten | |
| unsanft, abgewiesen hatte. Romantische Tanzszenen in der Kneipe zu | |
| Schlagermusik. Es ist eine verfluchte Lage, in die Herbert von Meyer, | |
| Salisbury und Stuber geschrieben wurde: Als er sich noch hätte artikulieren | |
| können, tat er es nicht. Und jetzt, wo es etwas zu sagen gibt, etwas | |
| auszusprechen – Entschuldigungen oder Worte von Zärtlichkeit, da geht es | |
| nicht mehr. | |
| Das rührt schrecklich an. Und die Filmmusik von Robert Seidel, an einigen | |
| Stellen vielleicht eine Nuance zu deutlich beim Untermalen, tut ihr | |
| Übriges. Trotzdem ist Herbert ein lohnender Film. Vor allem wegen Peter | |
| Kurth. Das Magazin Theater heute hat ihn 2014 zum Schauspieler des Jahres | |
| ernannt. Und ohne Frage – dieser Körper, diese Sprache, in diesem Milieu: | |
| das ist gut. | |
| 17 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolin Weidner | |
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