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# taz.de -- Theater in der Kirche: Judas, Erfüller des göttlichen Plans
> Er bleibt einsam – und kämpft gegen die Akustik des Braunschweiger Doms:
> Oliver Simon scheitert in „Judas. Theater in Kirchen“ grandios.
Bild: Verzweiflung im Altarraum: Oliver Simon als allseits unverstandener Judas.
BRAUNSCHWEIG taz | Um Rechtfertigung geht es ihm nicht, das stellt Judas
Ischariot gleich zu Beginn klar. Wie ein Heilsbringer erscheint er im
Kirchenschiff des Braunschweiger Doms und kündigt mit hallender Stimme an,
dass er nur noch ein paar Dinge klären müsse, bevor es „so richtig
losgehen“ könne. So bezichtigt er eine anonyme Person aus dem Publikum,
nicht für ihre Eintrittskarte bezahlt zu haben: „Das ist nicht anständig!�…
betont der zwölfte Jünger Jesu immer wieder. Aber natürlich gibt sich
keiner der 150 Zuschauer die Blöße, auf das Spiel einzugehen und sich zum
Sünder unter Sündern zu machen. Und so bleibt „Judas“ ein Monolog,
gesprochen von Oliver Simon.
Im Altarraum, der Simon auch als Bühne dient, sitzt sich das Publikum in
langen Reihen gegenüber, die Kulisse in der prunkvollen Basilika ist eher
einschüchternd als einladend. Und beinahe wirkt die Premiere des
„Judas“-Monologs von Lot Vekemans wie ein Gottesdienst. Eine Messe, in der
endlich derjenige Gehör findet, dem Unrecht angetan wurde.
Ziemlich schnell wird nämlich klar, dass Vekemans ein anderes Judas-Bild
anbietet als die gängige Erzählung vom Verräter. Tatsächlich sind sich die
vier Evangelisten der Bibel nicht einig, wie und warum der Kuss, mit dem
Judas Jesus an seine Verfolger verriet, vonstatten ging. Auch für
Judas’Herkunft und seinen Selbstmord existieren nur wenige Quellen. Die
Leerstellen in der Erzählung sind so groß, die Aussagen über den
Jesus-Jünger so widersprüchlich, dass die Legende von Judas als Inkarnation
des Bösen fragwürdig erscheint.
Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans lässt Judas zu Wort kommen,
um diese Ungewissheiten aufzuzeigen. Geradezu quengelnd betont er, dass man
im Grunde nichts über ihn wisse. Über ihn, den zum „Anderen“, zum
Außenseiter unter den Gläubigen stilisierten Jünger.
## Unverstanden seit Jahrhunderten
Leider passt die Entschlossenheit, mit der Simon seinen Judas verteidigt,
nicht ganz zu der eigentlich unentschlossen schillernden Figur voller
Zweifel: „Nur Dunkel und Licht. Dazwischen gibt es oft nichts.“ Das ist
einer der letzten Sätze, die Judas sagt.
Doch bevor man dieses Gut-Böse-Modell als zu simple Auslegung einer
biblischen Geschichte entlarven kann, bricht Judas eine Lanze für das
„Prinzip der Dualität“: „Die Wahrheit muss nicht immer kompliziert sein.
Wer hat sich das ausgedacht?“, lamentiert er in fast anti-aufklärerischer
Manier. Inständig bittet er das Publikum, nicht begreifen zu wollen. Schon
seit zwei Jahrtausenden könne niemand ihn begreifen.
Natürlich kann man die Figur Judas nicht vollständig ergründen. Doch wer
sollte den Versuch unternehmen, wenn nicht das Theater? Vor Vekemans haben
schon andere Dramatiker wie Nicos Kazantzakis (“Die letzte Versuchung“)
oder Walter Jens (“Der Fall Judas“) diesen Jünger aufgewertet – Letzteren
spielt dieser Tage Ben Becker auch in der einen oder anderen norddeutschen
Kirche – , indem sie ihn zum Protagonisten ihrer Werke machten. Sie haben
versucht, sein Handeln psychologisch plausibel zu machen.
Der Braunschweiger Judas indes ist ein gebrochener Mann. Verlassen von
seinem Freund Jesus, nicht einmal im Tod durfte er ihn wiedersehen, obwohl
er nur wenige Stunden vor Jesus starb. Judas bleiben nur Zweifel, und die
nimmt er ernst: „Glauben braucht keine Aktion / Zweifel schon / Glauben
will man behalten / Zweifel will man loswerden.“
## Judas erscheint nicht mehr als Verräter
Letztlich macht Judas dabei klar, dass wir alle uns im Handeln schuldig
machen. Sein Dilemma ist unser aller Dilemma. Und plötzlich erscheint Judas
Ischariot – auch das ist kein neuer Blick auf die Erzählung von Jesu Leiden
und Sterben – nicht mehr als Verräter, sondern als derjenige, der die
Erfüllung des göttlichen Heilsplans mit seinem „Verrat, wie ihr ihn nennt“
erst ermöglicht hat. Letztlich eine streng theologische, Jesu Geschichte
vom Ende her deutende Interpretation.
Die Produktivität von Judas Zweifeln schlägt sich allerdings weder in dem
2007 uraufgeführten Text nieder, noch in Simons Spiel. Nur selten blitzt
die Sprachgewalt Vekemans durch, die meist im Kirchenschiff verhallt. Ihre
schmucklos prosaischen Verse versuchen zu verbergen, was sie nicht wissen
können. Es ist eine Schande, dass Vekemans nicht sagt, ihre eigenen Zweifel
an Judas, am Glauben, die Zweifel am Schreiben und am Theater zu
formulieren. Stattdessen präsentiert Simon einen Monolog, der vorgibt, frei
von Brüchen zu sein – oder zumindest konsequent.
Viel zu gleichförmig und undifferenziert ist allerdings auch Oliver Simons
Spiel. Vom ersten Satz an führt er einen unerbittlichen Kampf gegen die
Umstände, so willensstark wie der leidende Hiob angesichts der Prüfungen
seines Gottes. Es ist ein Kampf gegen den extrem störenden Nachhall in der
Kirche. Zugleich kämpft Simon gegen die enorme Weite und die vollständig
erleuchtete Kulisse des romanischen Braunschweiger Doms.
Es ist ein Kampf gegen das Spiel in alle Richtungen, gegen das Alleinsein
auf der Bühne und nicht zuletzt gegen das gewaltige Abbild des Heilands,
das über sein Spiel wacht. Der Judas, den der Grazer Regisseur Dominique
Schnizer auf diese viel zu große Bühne warf, musste scheitern. Nur so lässt
sich auch die Entscheidung des Staatstheaters Braunschweig erklären,
„Judas“ in einem sakralen Gebäude zu inszenieren, das dem profanen Text die
Schau stiehlt.
## Ein Zuschauer als Erretter
Eine Herausforderung, an der Oliver Simon nur scheitern kann. Und doch: Als
die Inszenierung in sich zu zerfallen droht, rettet ein empörter Zuschauer
die Premiere. Als der Herr sich nach etwa fünfzehn Minuten die Jacke
anzieht und über die Bühne zum Ausgang geht, fragt Simon, warum er ihn
verlasse: „Zwei Gründe“, erhält er zur Antwort: „Furchtbare Akustik, und
Sie kommen nicht in die Puschen, Sie sind ja immer noch beim Anfang.“
Obwohl Simon hier für einen Moment schmunzelnd aus seiner Rolle fällt, geht
er hervorragend mit dem enttäuschten Zuschauer um und findet dabei eine bis
dahin nicht gesehene Energie. Dass diese Szene zu den besten des Abends
gehört, ist dennoch bezeichnend.
Bis zur letzten Szene bleibt Judas ein einsamer, ein verlorener Mann. Und
das trotz der leidenschaftlichen und ostentativ leidenden
Selbstinszenierung als Opfer seines Schicksals und als Vollbringer des
göttlichen Plans. Am Ende bedankt sich Judas Ischariot höflich, dass seine
Geschichte Gehör fand. Auf fruchtbaren Boden ist dieser Monolog allerdings
nicht gefallen.
3 Mar 2016
## AUTOREN
Kornelius Friz
## TAGS
Ostern
Theater
Braunschweig
Lesung
Serienmörder
Ferdinand von Schirach
Performance
Theater
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