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# taz.de -- Autobiografie von Stuckrad-Barre: Rausch als Haltung
> Es geht um Lindenberg und Angst. Stuckrad-Barre, der in einem Drogenloch
> verschwundene Popstar der Literatur, ist mit einer Autobiografie zurück.
Bild: Benjamin von Stuckrad-Barre 2012.
Hunter S. Thompson schrieb einmal, Schreiben sei wie Ficken, es mache nur
den Amateuren Spaß. Jenseits der Qual jedoch, die das Schreiben über sein
Leben vermutlich auch Benjamin von Stuckrad-Barre bereitet hat, war es für
ihn vor allem eine Therapie, um wieder Zugriff auf sein Leben zu bekommen,
das ihm für einige Jahre entglitten war, weil Kokain das Kommando
übernommen hatte.
Niemandem fällt es leicht, über seine Abhängigkeit zu schreiben. Aber das
ist nicht der Punkt, denn plötzlich ist nicht mehr die Droge der Feind
beziehungsweise der Freund, sondern der Leser, also ein Fremder, dem man
sich öffnet und dessen voyeuristischem Blick man sich aussetzt. Man braucht
also eine exhibitionistische Ader, will man das Publikum nicht langweilen,
sondern unterhalten und in seinen Bann ziehen. Und das beherrscht
Stuckrad-Barre wie kaum ein anderer.
In seiner Autobiografie „Panikherz“ (erscheint im März bei Kiepenheuer &
Witsch) lässt sich nachlesen, wie er durch Raum und Zeit jagt wie ein
Getriebener, dessen Leben schneller verbrennt als andere, nicht nur
deshalb, weil er drogenabhängig war. Stuckrad-Barre gehört zu jener
seltenen Sorte von Autoren, die ein Leben als Popstar geführt haben. Und
genau das wollte er auch.
Als Schüler in Göttingen fängt alles an, als Plattenkritiker, um gratis auf
Konzerte zu kommen. In seinem Leben auf der Überholspur ist er Praktikant
bei der taz-Hamburg, arbeitet als Redakteur beim Rolling Stone, bekommt
einen Job bei der Plattenfirma Motor Music, wird Gagschreiber bei Harald
Schmidt, persönlicher Referent von Küppersbusch, Redakteur bei der FAZ,
Moderator bei MTV, schreibt in kurzer Zeit mehrere Bücher und geht mit
ihnen auf ausverkaufte Tourneen. Alkohol und Kokain werden zu ständigen
Begleitern, um die immer schneller rotierende Maschine zu ölen, um sich
wegzubeamen und abzuheben.
## Nicht das schlechteste Lebenskonzept
Mitte der achtziger Jahre wird Stuckrad-Barre von Udo Lindenberg
musiksozialisiert, eine Liebe, die sein ganzes Leben bestehen bleibt, weil
Lindenberg bei ihm eine Saite zum Schwingen bringt, die mit der Sehnsucht
der Jugend zu tun hat. Bei Lindenberg entdeckt Stuckrad-Barre den „Rausch
als Spaß und Selbstzweck, Rausch aber auch als Protest, als Haltung. Als
Art, durchs Leben zu taumeln und nur sehr ausgewählt die permanenten
Ernsthaftigkeitsangebote der Umwelt anzunehmen“.
Und das ist eine Beschreibung, die Lindenberg auch Leuten sympathisch
macht, die ihn eher für etwas schlicht halten, denn es ist nicht das
schlechteste Lebenskonzept. Und auch wenn Stuckrad-Barre in den Anfängen
seines Journalistenlebens Lindenberg einmal im Rolling Stone in die Pfanne
haut, weil er zu klug ist, die fortschreitende „Mumifizierung“ Lindenbergs
nicht zu bemerken, so haben ihn die Lindenberg-Songs doch geprägt.
Noch im weggetretensten Zustand kann er die Lyrics auswendig, findet er in
seiner Autobiografie für jede Situation die richtigen Lindenberg-Worte.
Lindenberg wird ein wichtiger Freund, der immer da ist, wenn Stuckrad-Barre
ihn braucht. Stuckrad-Barre muss konzedieren, dass sich mit Häme ein Idol
nicht so ohne Weiteres aus dem Weg räumen lässt, dass enttäuschte Liebe nur
dazu taugt, als „Karikatur seiner selbst“ zu enden, und dass „mitmachen“
viel besser ist.
Das kann man leicht als selbstentlarvend empfinden, und viele werden auch
sagen, dass Stuckrad-Barre nie etwas anderes wollte. Das stimmt, aber der
Erkenntniswert des „Das habe ich ja schon immer gewusst“ ist eher gering,
denn das Geltungsbestreben eines jungen Menschen ist letztlich von der
Paradoxie bestimmt, alles einreißen zu wollen, dies aber nur tun zu können,
wenn man mitmischt, wenn man nicht „rein“ bleibt, indem man alle Angebote
ausschlägt und somit nichts bewegt.
Stuckrad-Barres literarische Helden heißen Bukowski, Hemingway, Kerouac,
Burroughs, Henry Miller und Ellis. Nicht zu vergessen Jörg Fauser, der in
Stuckrad-Barre den Wunsch weckt, „später mal ... allabendlich mit
Trenchcoat im ROTLICHTVIERTEL rumzutigern, immer auf der Flucht und in
Schwierigkeiten, Hinterzimmer, Tapetentüren, letzte Münzen in die Jukebox
und dann ab durch den Notausgang, mit der Kellnerin durchbrennen“.
## Gegen das Leben immunisiert
Genau das macht er auch. Sehr konsequent und zielstrebig, bis sämtliche
Türen zugeschlagen sind und es keinen Ausweg mehr gibt. Mit diesen Leuten
im Gepäck ist er gegen das Leben immunisiert, das sein protestantisches
Elternhaus für ihn vorgesehen hat und das er fürchtet.
Nach dem Leben als Popstar kommt der Absturz. Stuckrad-Barre geht durch die
Hölle. Er hinterlässt „eine Schneise der Enttäuschung und Zerstörung“, …
verliert den Bezug zur Realität, flüchtet aus allen sozialen Bindungen,
vergräbt sich, heckt wahnwitzige Pläne aus, solange das Koks das Gehirn auf
Touren bringt, und versteht die kurz vorher entworfene „rätselhafte
Pfeilgraphik“ selbst nicht mehr, die das ganz große Ding hätte werden
sollen.
Die Sucht ist deprimierend, eintönig, öde. Sie zu beschreiben, daran sind
viele gescheitert, denn sie lässt den Menschen auf ein
Reiz-Reaktions-Bündel schrumpfen, weil kaum etwas passiert und jede
Abweichung vom Gewohnten als bedrohlich wahrgenommen wird. Stuckrad-Barre
bleibt distanziert, analytisch, erscheint nie mitleidig und dennoch schafft
er es, dass man zu begreifen glaubt, was das ist, die Sucht.
## Horrortrip: Klassentreffen
Vielleicht wegen seiner Gewissheit, wirklich am Ende zu sein, gerät
Stuckrad-Barre aus dem Gleichgewicht, als ihn die Einladung zum 20-jährigen
Klassentreffen erreicht. In einer seitenlangen angstneurotisch gesteuerten
Suada, die literarisch zu einem der Highlights in dem an Highlights nicht
armen Buch gehört, fallen ihm tausend Gründe ein, warum er die Einladung
nicht annehmen kann. „Wer sagt, ‚Das müssen wir unbedingt wiederholen‘,
will nach Hause. Wer etwas zu laut und oft sagt, ‚Ich bin ein totaler
Familienmensch‘, ist fertig mit den Nerven, sehnt sich nach Einsamkeit. Wer
sagt, ‚Du hast dich ja echt kaum verändert‘, möchte genau das über sich
selbst hören, und zwar schnell.“
Am Ende der langen Liste von Verhaltensgestörtheiten, die jeder kennt,
bleibt nichts mehr übrig, ist jede Gewissheit, die den Menschen am Laufen
hält, zerpflückt. Stuckrad-Barre kann all diesen Leuten nicht
gegenübertreten, weil er sich in ihnen spiegeln würde, sich selbst
wiederbegegnen, dem, der er mal war und werden wollte. „Die Erinnerung ist
die einzige Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt. Und an sie zu rühren,
sie zu betreten, sie mit Gegenwart aufzuladen, heißt, einen Kampfhund zu
reizen.“
Stattdessen entdeckt er auf der Flucht vor ihr eine ungewöhnliche
Schönheit: die Reeperbahn, „wenn die Nacht sich dem folgenden Tag ergab,
wenn es schon dämmerte und die allerletzten Angebote gemacht wurden, wenn
wirklich nur noch die Profis und Fertigen unterwegs waren und das sanfte
Crescendo der Straßenkehrmaschinenbürsten andeutete: Das war‘sfür heute.“
Das mag romantisierend klingen, auch wenn die gesellschaftliche Konvention
in einem solchen Bild nur etwas Abschreckendes sehen kann. Aber Erlebnisse,
in denen wir Glück empfunden haben, werden nun mal später zwangsläufig
romantisiert, weil sie unwiederbringlich vorbei sind und dadurch zu
unerfüllten Sehnsuchtsorten werden.
## Der Kampfhund Erinnerung
Stuckrad-Barre hat den Kampfhund Erinnerung gereizt, und herausgekommen ist
ein großes Buch, ein Buch, das bleiben wird, weil er sein Leben in die
Waagschale geworfen hat, um Ruhm und Erfolg zu erlangen. Er ähnelt damit
mehr, als er es vielleicht weiß, weil der Name in seinen hagiografischen
Aufzählungen nie auftaucht, Hunter S. Thompson, auch ein Getriebener und
großer Autor.
„Das Leben ist ein mittelmäßiges Theaterstück mit einem schlecht
geschriebenen dritten Akt“, zitiert Stuckrad-Barre gern einen seiner
Säulenheiligen, Fitzgerald, weil ihm sein eigenes Leben so erscheint. Das
hört sich wie Koketterie an, denn auf das Leben, das uns aus seinem Buch
entgegentritt, trifft das ganz und gar nicht zu.
10 Mar 2016
## AUTOREN
Klaus Bittermann
## TAGS
Buch
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