# taz.de -- Die Lit.Cologne setzt auf Ereignis: Alles so schön familiär | |
> Stuckrad-Barre kaut Nägel, Laurie Penny nervt als Nerd und Anna Thalbach | |
> spuckt Gift und Galle. Drei Tage Literatur satt in Köln. | |
Bild: Benjamin von Stuckrad-Barre las in Köln aus „Panikherz“ | |
Sich mal so richtig daneben benehmen, ohne Scham und ohne Rücksicht. | |
„Lobnutten“ (Goetz) und „Fernsichtverhinderer“ (Handke) sind die | |
Mitmenschen, und das Werk von Jack Kerouac ist „nicht Schreiben, sondern | |
Tippen“ (Capote). Ja, Schriftsteller sollten fluchen können. Wie das | |
erlernt werden kann, zeigt sich Montagabend im fiktiven Workshop „Gift und | |
Galle. Sie schimpfen, die Dichter“ im WDR-Funkhaus in der Kölner | |
Innenstadt. | |
Schauspieler Robert Dölle mimt den Coach, die Kollegen Anna Thalbach und | |
Robert Stadlober Nachwuchsautoren, die das Fluchen lernen wollen. Mit | |
überragender Wut tragen sie entsprechend missgelaunte Texte vor von | |
Bernhard, Houellebecq, Shakespeare, Seneca. Dem Publikum – rund 600 | |
Menschen, mehr Frauen als Männer, mehr Ü50 als U40 – gefällt diese | |
Mischform aus Lesung, Schauspiel und Performance. Eine gern gesehen | |
Veranstaltungsform auf der Lit.Cologne. | |
Allabendlich, wenn alle Bücher gelesen, alle Veranstaltungen abmoderiert | |
sind, treffen sich Autoren, Organisatoren, Moderatoren in der Bar des | |
Schokoladenmuseums mit Blick auf den nächtlich dahinfließenden Rhein. Ein | |
Kölsch, ein Bon. Ein Bon, ein Euro. Man trinkt und isst, lacht und raucht. | |
Hier diskutiert die Top-Schauspielerin kurz vor Mitternacht mit dem | |
Top-Autor über Frauke Petry und Hotelzimmer. Alles so schön familiär. | |
Am Dienstag stellt Laurie Penny ihr neues Buch im früheren | |
Millowitsch-Theater am Rudolfplatz vor. Science-Fiction-Prosa mit | |
feministischem Touch. Nix da Politik, nix da Frauenrechte, sondern aus | |
Mikrochips gebaute künstliche Babys und im himmlischen Callcenter | |
arbeitende Engel, die sich in Menschenmänner verlieben. | |
## Leidenschaft für „Star Trek“ | |
Das ist nett anzuhören, aber manche Zuhörer, die hier jünger, weiblicher, | |
alternativer sind als sonst, sind enttäuscht. Kein Wunder, Penny gilt | |
vielen als derzeit wichtigste Feministin Europas. „Babys machen“, so der | |
Titel ihrer Kurzgeschichten (bisher nur auf Deutsch erschienen), überzeugt | |
ihre Fans nicht so recht. Da kommt die Laurie in die Stadt, man hat ein | |
Ticket ergattert – und dann bietet sie so Nerd-Zeug und erklärt mit | |
kindlicher Begeisterung ihre glühende Leidenschaft für „Star Trek“. Auf d… | |
bisher nicht so glühenden Penny-Fans allerdings wirkt sie überaus | |
sympathisch. | |
Politisch geht es zeitgleich fünf Kilometer nordöstlich zu, im Schauspiel | |
Köln. Dort liest Schauspieler Sylvester Groth aus Hitlers „Mein Kampf“ | |
derart emotional, derart sich in den Text reinsteigernd, dass manche später | |
„Skandal“ rufen, andere „brillant“ sagen, dem Publikum jedenfalls recht | |
unwohl wird. So hört man. Denn man kann ja selbst nicht überall sein | |
angesichts von über 170 Veranstaltungen in 12 Tagen. | |
Nicht verpassen durfte man Benjamin von Stuckrad-Barre, der im WDR-Funkhaus | |
sein autobiografisches „Panikherz“ vorstellte. Das Buch ist ein Ereignis. | |
So häufig und so positiv besprochen, dass man nicht drum herumkommt. Auch | |
der Autor ist ein Ereignis. Stürmt messiasartig zu feierlicher | |
Kirchenmusik, die von Oasis-Klängen und dann von 80er-Trash abgelöst wird, | |
auf die Bühne. Noch immer ein Popstar, dieser ehemals gefeierte Popliterat. | |
## Das Publikum lacht. Noch | |
Während ihn zuvor in Hamburg und Berlin prominente Weggefährten wie Sven | |
Regener und Udo Lindenberg auf der Bühne unterstützt hatten, liest er in | |
Köln im Wechsel mit TV-Produzenten Friedrich Küppersbusch, mit dem ihn | |
einen unübersehbare Freundschaft verbindet. Stuckrad-Barre braucht diese | |
Unterstützung. Er zittert, seine unterm Tisch ineinander verschlungenen | |
Beine wippen beständig, er kaut an den Nägeln. Er wirkt wie ein von seiner | |
eigenen Geschichte und von eigenen Ansprüchen Getriebener. Sie scherzen, | |
sind selbstironisch und bissig, brechen immer wieder aus dem Text aus und | |
kommentieren. | |
Wie Stuckrad-Barre etwa über Panik vor dem Klassentreffen 20 Jahre nach dem | |
Abi schreibt, das ist große Unterhaltung. Das Publikum lacht. Noch. Denn | |
die Stimmungskurve sinkt parallel zum fortschreitenden Verfall des Autors. | |
Schluss mit lustig, jetztgeht‘s ums Ganze. Um Kokainsucht, Alkohol, | |
Bulimie. Selbstzerstörung. Nur wenige mögen noch lachen, obwohl es selbst | |
am Tiefpunkt komisch zugeht. | |
Stuckrad-Barre wirkt in sich gekehrt, als er von den letzten Nächten im | |
Hamburger Hotel liest, von seinen letzten Wertsachen, „fünf Beutelchen | |
Speed“. Am Abend trinken sie dann wieder in familiäre Atmosphäre im | |
Schokoladenmuseum. Nur Stuckrad-Barre nicht. Sein letztes Bier trank er vor | |
zehn Jahren. | |
17 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Paul Wrusch | |
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