# taz.de -- Buch von früherem Pussy-Riot-Mitglied: „Modell Strafkolonie“ | |
> Nadja Tolokonnikowa brachte einst Putin in Bedrängnis. Jetzt erzählt sie | |
> ihre Geschichte und liefert zugleich ein Manifest. | |
Bild: Nadja Tolokonnikowa schloss sich mit 16 der Moskauer Avantgardeszene an. … | |
Blutschlieren bilden sich nach 16, 17 Stunden Arbeit auf dem | |
Nähmaschinentisch; die Hände sind wund, die Nadel rattert, die Schicht | |
dauert an. Von 7.30 Uhr an sitzen die Frauen vor den Nähmaschinen, bis 0.30 | |
Uhr müssen sie durchhalten. Manche sinken müde zusammen. Sie werden mit dem | |
Knüppel geweckt: „Damit schlägt die Verwaltung die Näherinnen, die ihre | |
Produktionsnorm (…) nicht erfüllen. Mit diesem Knüppel prügelt man aus den | |
Frauen 250 Anzüge pro Tag“, schreibt die ehemalige Inhaftierte. Die Anzüge, | |
das sind unter anderem Polizeiuniformen, die hier, im Frauenarbeitslager | |
IK-14, hergestellt werden. | |
Das IK-14 ist eines der berüchtigten Arbeitslager in Mordwinien, die | |
bereits seit Gulagzeiten bestehen; die Ex-Insassin, die diesen Knastalltag | |
schildert, ist Nadja Tolokonnikowa. Als Mitgründerin von Pussy Riot wurde | |
Tolokonnikowa in Folge des „Punk-Gebets“ in der Christ-Erlöser-Kathedrale | |
in Moskau Anfang 2012 festgenommen. | |
Die heute 26-Jährige verbrachte im IK-14 den Großteil ihrer Haft. Mit | |
„Anleitung für eine Revolution“ ist nun ihr erstes Buch erschienen, das | |
zugleich Gefängnistagebuch und scharfe Kritik an russischer Innenpolitik | |
ist. Es erscheint zuerst auf Deutsch. In Russland, so die Autorin, wird | |
sich wohl kein Verlag trauen, es zu veröffentlichen. | |
Tolokonnikowa, die am 3. März 2012 verhaftet und am 23. Dezember 2013 – | |
kurz vor Olympia in Sotschi – amnestiert wurde, sagte nach ihrer | |
Freilassung: „Russland ist nach dem Modell Strafkolonie aufgebaut, | |
Straflager und Gefängnisse sind das Gesicht des Landes.“ Die Justiz im | |
Putin-Staat beschreibt sie im Buch mit den Worten Andrej Amalriks, eines | |
Dissidenten aus UdSSR-Zeiten: „Dem Beschuldigten, dem Ermittler, dem | |
Verteidiger, dem Staatsanwalt und dem Richter, allen ist völlig klar, dass | |
alles, abgesehen von Details vielleicht, schon entschieden ist.“ | |
## Küsse und Riots | |
„Anleitung für eine Revolution“ ist genauso Montageroman wie politische | |
Biografie. Putin-Zitate stehen neben Bibelzitaten, Prozess-Plädoyers neben | |
Nachrichtenschnipseln, Äußerungen ihres Vaters neben Aphorismen und | |
Sentenzen (“Mach Wasser zu Wein. Sei ein Superheld“, „Every kiss begins | |
with Riot“). Letzteres verleiht dem Buch Manifestcharakter. | |
Bei aller brutalen Sachlichkeit, mit der Tolokonnikowa das Lagerleben | |
schildert, verkümmert weder Humor noch Empathie. Dies fällt auf, wenn sie | |
etwa die Mitinhaftierte Slata, eine junge wie jungenhafte Frau mit | |
Zahnlücke und Straßensozialisation, beschreibt: „Meine Sprache und ihre – | |
das ist wie totes Latein im Vergleich zu lebendigem Italienisch (…) ich | |
finde, dass in Slatas Sprache viel mehr Leben steckt als in meiner. (…) | |
Dabei ist sie eigentlich ein Raubtier, muss wild tanzen, spielen, Leute | |
anpöbeln – Miley Cyrus wird dafür mit Liebe und Millionen Dollar bezahlt, | |
Slata verschwendet ihre Grazie an Mordwinien.“ | |
Die Pussy-Riot-Performerin beschreibt den Sex und die Liebe im Lager, die | |
einen den Koloniealltag verdrängen lassen. Sie lässt sich über das | |
phallozentrische Wertesystem innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern | |
und über das „tausendjährige Patriarchat” in Russland aus. Kontinuitäten | |
der Repression seit der Zeit des Zarismus sind Tolokonnikowas Thema. Sie | |
beschreibt das System Besserungsanstalt, das System Lager, das System Gulag | |
– und die Disziplinargesellschaft Russland, die ihres Erachtens stets | |
fortbestand. | |
## „Überwachen und Strafen“ | |
Die Geschichte Pussy Riots erzählt sie von der Gründung 2011 bis zur | |
Inhaftnahme des Trios Tolokonnikowa, Katja Samuzewitsch und Maria Aljochina | |
im März 2012. Sie reiht die Aktionen der Gruppe auf, zitiert aus den | |
Prozessakten. Tolokonnikowa führt Foucaults „Überwachen und Strafen“ zur | |
Analyse des Lagersystems an; naheliegend, denn das System ist eines des | |
Pathologisierens, des Ausschlusses alles Devianten. | |
Auch dessen „Wahnsinn und Gesellschaft“ wäre dazu geeignet; das „Andere�… | |
der Vernunft wird politisch unmündig gesprochen – Tolokonnikowa nennt dafür | |
zahlreiche Beispiele. So lässt sich auch erklären, warum Pussy Riot wegen | |
„Rowdytums“ schuldig gesprochen wurde – und vermieden wurde, sie als | |
Oppositionelle zu betrachten. | |
Interessant die Analogie der Autorin zum postnazistischen Deutschland: „Das | |
derzeitige Russland ist dem Nachkriegsdeutschland erstaunlich ähnlich: 88 | |
Prozent aller Menschen sagen, dass man anderen nicht vertrauen könne. Ende | |
der 1980er-Jahre war das anders: 74 Prozent der Menschen schenkten anderen | |
Vertrauen.“ Will man den Fatalismus Tolokonnikowas verstehen, der sich in | |
jeder Zeile manifestiert, sollte man sich also die Adenauerzeit vor Augen | |
führen. Es brauchte 68, es brauchte Veröffentlichungen wie Ulrike Meinhofs | |
„Bambule“. Hier also ist Tolokonnikowas Bambule. Nicht zufällig handeln | |
beide Bücher von Besserungsanstalten. | |
28 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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