# taz.de -- Justiz in Russland: Ein Leben in Straflager LIU-19 | |
> Zehn Jahre Arbeitskolonie strengen Regimes – so lautet das Urteil gegen | |
> unseren deutschen Autor wegen eines Drogendelikts. Einblicke in | |
> Protokollform. | |
Bild: Heimliche Aufnahme: Unser Autor hat sein Leben in der Arbeitskolonie LIU-… | |
Am 5. Januar 2013 durchsuchte russische Polizei die Moskauer Wohnung von | |
Nik Lisak und stellte 16 Gramm Kokain und 90 Gramm der Partydroge MDMA | |
sicher. Lisak gestand, die Betäubungsmittel zum Eigenbedarf zu besitzen. | |
Der 40-Jährige, der als Berater tätig war, kam in U-Haft und wurde am 11. | |
November 2013 „wegen versuchten aber nicht zu Ende geführten Verkaufs von | |
Betäubungsmitteln“ – Lisak weist das von sich – zu zehn Jahren | |
Arbeitskolonie strengen Regimes verurteilt. Die Kolonie befindet sich in | |
der russischen Teilrepublik Mordwinien, etwa 500 Kilometer östlich von | |
Moskau. | |
## Ankunft in Mordwinien | |
Am 7. März 2014 wurde ich nach Mordwinien zur Haftverbüßung transportiert. | |
In unserem Waggon gab es vier vergitterte Abteile mit jeweils drei | |
Stockbetten auf jeder Seite. In jedem Abteil saßen und lagen zehn bis 20 | |
Personen. Im Zug gab es nochmal eine Taschen- und Körperinspektion. Trotz | |
der eisigen Temperaturen wurden keine Decken verteilt. Die Fahrt dauerte | |
von 23 Uhr abends bis 8 Uhr morgens. Zielort war Potma, etwa 500 Kilometer | |
von Moskau entfernt. | |
Dort ging es per Sammeltransport weiter in das Auffanglager IK 18, wo ich | |
die folgenden fünf Tage mit zehn Mitgefangenen in einer 15 Quadratmeter | |
großen Zelle verbrachte. Mir wurde Blut abgenommen, die Lunge wurde | |
geröntgt. Dann ging es per Sammeltransport in die 60 Kilometer entfernte | |
Strafkolonie LIU-19. | |
## Ankunft in der Kolonie LIU-19 | |
Der Gefangenentransporter rollte in eine Schleuse. Jeder Gefangene wurde | |
aufgefordert, zuerst seine Tasche aus dem Transporter zu werfen, dann | |
selbst hinaus zu springen und direkt in Hocke zu gehen, die Arme über dem | |
Kopf verschränkt. In dieser Position verharrten wir ca. eine halbe Stunde. | |
Nach unserer Identifikation wurden wir in ein Quarantänegebäude geführt. | |
Wir mussten uns im Hof aufstellen und wurden nacheinander zur Durchsuchung | |
gerufen. Sämtliche private Kleidung wurde konfisziert, später wurden wir in | |
die Sammeldusche geführt. Dort wurden jedem Neuankömmling vom Lagerfriseur | |
die Haare rasiert. Nach der Dusche wurden die Gefängnisuniformen | |
ausgeteilt. Ich blieb für die nächsten zehn Tage im Quarantänegebäude. An | |
den ersten beiden Tage mussten alle Neuankömmlinge von 6.30 bis 19 Uhr im | |
Hof des Gebäudes stehen und sitzen. Anfang März liegen die Temperaturen um | |
zehn Grad minus. | |
## Die Wohnbaracke 4 | |
In jeder Baracke leben etwa 100 Gefangene. Sie schlafen in zwei Schlafsälen | |
in doppelstöckigen Betten. Pro Baracke gibt es einen Raum mit zehn | |
Waschbecken, eine Gemeinschaftstoilette mit sechs Plumpsklos, eine Küche. | |
Außerdem gibt es einen Aufenthaltsraum mit Fernseher und etwa 20 Stühlen | |
und einen Lagerraum für die Taschen der Gefangenen. Strom fließt ab 6 und | |
ab 20 Uhr für jeweils eineinhalb Stunden. Persönliche Habe darf nur in | |
Taschen aufbewahrt werden, der Taschenraum wird dreimal täglich für 30 | |
Minuten geöffnet. | |
Jede Baracke hat ihren festen Duschtag. In Gruppen von je 20 Gefangenen | |
geht es zum Duschen, jeder Gruppe stehen etwa 20 Minuten zur Verfügung. Die | |
tägliche Rasur ist Pflicht, ebenso die wöchentliche Kopfrasur. Wer mit | |
Haaren oder Bartstoppeln von mehr als drei Millimetern erwischt wird, wird | |
mit Bunkeraufenthalt bestraft. Bestraft werden auch Verstöße gegen die | |
Uniformpflicht. Ein Paar Schuhe wird für zwei Jahre ausgegeben, zum Sommer | |
und zum Winter gibt es eine neue Uniform. | |
## Die beiden Sektoren | |
Die Kolonie erstreckt sich über einen Quadratkilometer. Sie ist in einen | |
Wohn- und einen Arbeitssektor unterteilt, dazwischen das Stabsgebäude und | |
die Lkw-Schleuse. Im Wohnsektor befinden sich fünf Baracken, die | |
Hauptwache, die Mensa, eine medizinische Abteilung und eine Wäscherei mit | |
der Sammeldusche. All diese Gebäude sind um einen zentralen Platz | |
angeordnet. | |
Durch eine Schleuse ist der Arbeitssektor vom Wohnsektor getrennt. Es ist | |
streng verboten, sich zwischen beiden frei zu bewegen. Das Überschreiten | |
dieser Grenze erfolgt morgens zur Arbeit. Im Arbeitssektor befinden sich | |
Mühle, Ölmühle, Getreidelager, Sägewerk, Schreinerei, Nähfabrik, | |
Heizkraftwerk für Warmwasser, Autoschlosserei, Ställe für Kühe, Schweine | |
und Hühner, Schmiede und Schlosserei. Jeder der 500 Häftlinge muss | |
arbeiten. Ein Entgelt gibt es frühestens nach einem Jahr, 10 bis 30 Euro | |
pro Monat. Mehr als die Hälfte arbeitet ohne Bezahlung. | |
## Tagesablauf | |
Jeder Tag beginnt mit dem Weckruf um 5.45 Uhr. Um 6.10 Uhr müssen die | |
Gefangenen in Fünferreihen auf dem Hauptplatz angetreten sein. Dazu ertönt | |
Militärmusik, immer die gleichen drei Lieder. Von 6.10 bis 6.30 Uhr | |
schallen aus dem Lautsprecher Anweisungen für Frühsport: fünf Übungen, an | |
jedem Tag die gleichen. Um 6.30 Uhr werden alle 500 Gefangenen in die Mensa | |
geführt. 30 Minuten Zeit, den Haferbrei und eine Tasse süßen Tee zu | |
empfangen. Löffel und Tasse müssen mitgebracht werden. | |
Um 7.15 Uhr Arbeitsbeginn der ersten Schicht. 10.45 Uhr Pause, zur ersten | |
Zählung im Arbeitssektor. Die Zählung findet zwischen 11 und 12 Uhr statt, | |
es werden die Namen aufgerufen, Uniformen, Rasur und Haarschnitt überprüft, | |
geredet werden darf nicht, Stillstehen ist Pflicht. Alle Verstöße werden | |
registriert und mit Schlägen oder Bunker geahndet. | |
12 bis 13 Uhr Mittagessen, täglich werden Suppe und Haferschleim und Tee | |
gereicht. Frisches Gemüse oder Obst gibt es nicht. Fleisch war | |
grundsätzlich verrottet und roch faulig. | |
13.15 bis 16 Uhr: zweite Schicht. 16 bis 17.45 Uhr: zweite Zählung. 18 bis | |
19 Uhr Abendessen. Die Hälfte der Gefangenen bleibt nach 19 Uhr im | |
Wohnsektor und wird dort zum Aufräumen oder zur Feldarbeit abgestellt. 19 | |
bis 21 Uhr: dritte Schicht. 21 bis 21.30 Uhr: freie Zeit zum Fernsehen im | |
Gruppenraum. 21.30 bis 21.45 Uhr Nachtwäsche, 21.45 Uhr Nachtruf. | |
Sonntags fällt der Frühsport aus, Weckruf eine Stunde später. Gearbeitet | |
wird jeden Tag, auch sonntags. Dieses Regime wird mit minutiöser | |
Genauigkeit ausgeführt, ungeachtet des Wetters, 40 Grad im Sommer, minus 35 | |
im Winter. Bei Unwetter werden die Zählungen in den Objekten durchgeführt. | |
Der Frühsport findet bei jedem Wetter statt. Bei Schneefällen werden | |
Kommandos gebildet, die rund um die Uhr Schnee schippen. | |
## Bestrafungen und Bunker | |
Das Nichterfüllen des Arbeitssolls oder Arbeitsverweigerung werden mit | |
Knüppelschlägen in der Hauptwache oder stundenlangem Strammstehen vor der | |
Hauptwache geahndet. Im Sommer werden Gefangene mit Wasser übergossen, um | |
Insekten anzulocken. Viele verbringen bis zu 24 Stunden im zwei Mal drei | |
Meter großen Käfig im Hof des Bunkergebäudes. Nach einer schlaflosen Nacht | |
in diesem Käfig wird der Gefangene am nächsten Morgen direkt zur Arbeit | |
geführt. | |
Wiederholte Verstöße werden mit bis zu zehn Tage Bunker geahndet. Im Bunker | |
werden die Bettgestelle um 5.30 Uhr hochgeklappt. Bis zum Nachtruf ist es | |
verboten, auf dem Boden zu liegen. Der Gefangene darf am Tisch sitzen und | |
auf und ab gehen. Hinzu kommt eine permanente ohrenbetäubende | |
Musikbeschallung bis zum Nachtruf. Bei jedem Verstoß verlängert sich der | |
Bunkeraufenthalt automatisch um zehn Tage. Bunkeraufenthalte über mehrere | |
Jahre sind üblich. | |
## Mein Werdegang | |
Das erste Jahr arbeitete ich entgeltfrei 16 Stunden am Tag in der | |
Holzfabrik, wo wir Möbel und Schach- und handgeschnitzte Brettspiele | |
herstellten. Ab Januar 2015 wurde ich als Verantwortlicher des sogenannten | |
Lagerklubs eingeteilt. Dort musste ich die Veranstaltungen der | |
militärischen Feiertage abhalten, Theateraufführungen, Lesungen, | |
künstlerische Wettbewerbe, die zwischen allen russischen Gefangenenkolonien | |
stattfinden. Hier verdiente ich rund 50 Euro pro Monat. | |
## Renovierung in der Kolonie | |
Alle verantwortlichen Positionen werden von Gefangenen besetzt. Alle | |
Arbeiter werden von solchen Vorarbeitern („Brigadieren“) geleitet, diese | |
werden bevorzugt behandelt. Allerdings müssen alle Renovierungsarbeiten in | |
Baracken und Objekten von den Vorarbeitern finanziert werden. Diese | |
wiederum treiben das Geld bei anderen Gefangenen ein. All dies wird | |
bargeldlos über SIM-Karten und Onlinekonten abgewickelt. Offiziell wird | |
dieses Praxis geleugnet. Die Kolonie ist aufgrund dieser Praxis in | |
tadellosem Zustand. Ich selbst wurde mit 24 Stunden Käfig und | |
anschließendem zweitägigem Bunkeraufenthalt bestraft, weil ich mich | |
weigerte, 500 Euro für die Komplettsanierung der Bibliothek zu „spenden“. | |
Nach dem Käfigstehen wurde ich von einem Beamten eine Stunde lang mit einem | |
Gummiknüppel geschlagen. Während meiner Zeit in der Schreinerei wurde das | |
Kollektiv unzählige Male mit Käfigstehen bestraft, weil der Kolonieleiter | |
entweder Möbelarbeiten beanstandete oder Arbeiten nicht termingerecht | |
ausgeführt wurden. | |
## Medizinische Versorgung | |
Die Grundversorgung war gewährleistet, tägliche Sprechzeiten in der | |
medizinischen Abteilung, Zahnarztbesuch zweimal im Jahr. Ich verlor drei | |
Zähne, einen in Untersuchungshaft, zwei in der Kolonie. Sie wurden mit | |
Batteriesäure verätzt und mit einer Kombizangen gezogen – nicht vom | |
Zahnarzt, sondern in der Autowerkstatt. Außer ständigem Pilzbefall trug ich | |
sonst keine gesundheitlichen Schäden davon. | |
Am 29. April 2016 wurde Nik Lisak nach Berlin überstellt, wo er seine Haft | |
bis Januar 2023 verbüßt. Lisak ist Freigänger und arbeitet im vegetarischen | |
Restaurant Wildeküche als Koch. Der (gekürzte) Bericht ist Teil eines | |
Halbstrafenantrags, mit dem Lisak eine Verringerung seiner Haftzeit | |
erreichen will. | |
3 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Nik Lisak | |
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