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# taz.de -- Libyen ohne Gaddafi: Die Euphorie ist vorbei
> Kein Diktator, aber auch keine Sicherheit: Fünf Jahre nach dem Beginn des
> Aufstands fürchten Bewohner Bengasis islamistische Extremisten.
Bild: 2011 war die Begeisterung im Kampf gegen den gemeinsamen Feind noch groß.
Bengasi taz | Die Bilder scheinen aus einem anderen Leben zu stammen.
Mohammed Kaplan blättert stumm in dem Album, dessen leicht verblichene
Fotos ihn in einem verrußten Raum mit zwanzig Mitstreitern zeigt. Junge
Leute sitzen konzentriert vor Bildschirmen, in Uniformjacken, einige mit
Che-Guevara-Mützen, Kameras und Handys liegen auf dem Tisch. Dazwischen
sitzen ausländische Journalisten, die mit ihren Berichten von dem
Bürgeraufstand in Bengasi, der im Februar 2011 begann, für weltweite
Sympathien für die Millionenstadt im Osten Libyens sorgten.
„Wir dachten gar nicht daran, das Regime Gaddafis zu stürzen, wir wollten
nur Freiheit. Erst mit den Schüssen auf die Demonstranten wurde daraus ein
Volksaufstand“, sagt der 40-jährige Zahnarzt und blättert durch die Seiten.
„Keiner hatte irgendwelche Erfahrungen oder einen Plan, wie es weitergehen
sollte. Aber die Euphorie, den scheinbar so übermächtigen Staatsapparat in
wenigen Tagen aus der Stadt gejagt zu haben, hielt uns zusammen.“ Die gute
Stimmung ist inzwischen verflogen. Kaplan ist mit seiner Familie bei
Verwandten untergekommen, seit Extremisten seine Nachbarschaft
terrorisieren.
Dabei hatte die Revolution vielversprechend begonnen. Vier Wochen nach den
Protesten stand eine Kilometer lange Panzerkolonne der Armee vor den Toren
der Millionenstadt. Doch französische Kampfjets griffen nur Minuten nach
der einstimmigen Verabschiedung einer Resolution des UN-Sicherheitsrates
ein, die „alle notwendigen Maßnahmen“ zum Schutz der Zivilbevölkerung
autorisierte.
Als die Front im September die 1.000 Kilometer entfernte libysche
Hauptstadt erreichte, hatten Bürgerinitiativen die Organisation Bengasis
übernommen. Ein neues Libyen, in dem auch Islamisten und Gaddafi-Anhänger
Platz hatten, schien möglich. „Nach der Befreiung von Tripolis gab es über
hundert Zeitungen und Radiostationen in Bengasi“, sagt Kaplan. „Touareg,
Tobu, Berber, Islamisten kamen. Nach der Zwangsarabisierung wurde mir
erstmals bewusst, wie unterschiedlich wir Libyer überhaupt sind. Wir
kannten unser Land nicht.“
## Unterschiedliche Ideen von Freiheit
Die Euphorie begann zu verblassen, als Diplomaten, ausländische
Journalisten und Hilfsorganisation nach Tripolis umzogen, wo Muammar
al-Gaddafi Macht und Geld konzentriert hatte. „Uns überließ man den
Islamisten“, glaubt Kaplan, der heute eine eigene Praxis betreibt.
Die Machtübernahme der bärtigen Männer begann am 1. August 2011 mit dem
Mord an Abdulfatah Junis, dem zur Revolution übergelaufenen Chef der
Spezialeinheiten, und einer Kampagne gegen Polizisten und Soldaten. „Mir
war plötzlich klar, dass wir zwar alle Gaddafi loswerden wollten, aber für
unterschiedlichste Versionen eines neuen Libyen kämpften“, sagt Kaplan. Im
Sommer 2012 demonstrierte Ansar al-Scharia auf dem Freiheitsplatz von
Bengasi ihre Macht. Während der Ausrufung der Scharia vertrieben die
gleichzeitig demonstrierenden Föderalisten die Bewaffneten.
Anders als Tripolis hat sich gerade wegen der Vernachlässigung Bengasis
eine Bürgerschicht erhalten, die vor und nach dem Krieg in Bildung und
nicht in Kalaschnikows investierte. Kaplan begann schnell seinen
Kindheitstraum zu realisieren: ein Comicmagazin mit libyschen Helden und
Geschichten namens Ali Baba. „In meiner Kindheit musste ich libanesische
und ägyptische Magazine lesen. Auch in der Schule lernten wir mehr über
Palästina und Saudi-Arabien als über die Kultur und Geschichte Libyens“,
erläutert er. Zehn Ausgaben des Magazins veröffentlichte Kaplan und
verteilte es in Schulen und auf Märkten, „damit die Kinder nicht nur mit
Gewalt und Krieg konfrontiert werden und wieder Interesse am Lesen haben.“
Nun fehlt das Geld.
Am Stadtrand von Bengasi tobt seit einem Jahr ein Stellungskrieg zwischen
einer Art Bürgerwehr, der Armee von General Hafter und einer Allianz des
„Islamischen Staates“ und religiöser Milizen. „Wir wollen weder eine
Militär- noch eine Milizendiktatur“, sagt Kaplan. „Wir haben von Anfang an
für einen Rechtsstaat gekämpft. Aber anders als diese Radikalen wollen wir
niemandem unsere Vorstellungen mit der Waffe in der Hand auf zwingen.“
17 Feb 2016
## AUTOREN
Mirco Keilberth
## TAGS
Libyen
Bengasi
Muammar al-Gaddafi
Dschihadisten
Milizen in Libyen
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„Islamischer Staat“ (IS)
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