# taz.de -- US-Künstlerin Melissa Logan über Dada: „Das ist irgendwie tenta… | |
> Melissa Logan brach ihr Studium ab, um in einer Bar ein Kunstprojekt zu | |
> starten. Später gründete sie eine Universität und erfand die | |
> High-Heel-Gitarre. | |
Bild: Die US-Künstlerin Melissa Logan in Stimmung: Anstatt ihr Studium zu been… | |
taz: Melissa Logan, wie viel Dada, wie viel historische Avantgarde steckt | |
in Chicks On Speed? | |
Melissa Logan:Es ist schwer, sich Chicks On Speed ohne die | |
Situationistische Internationale um Guy Debord vorzustellen – und die | |
Situationisten wiederum sind ohne Dada und die Lettristen nicht denkbar. | |
Die historischen Bezüge von Chicks On Speed beginnen ein bisschen vor Dada, | |
dann überspringen wir rückwärts ein paar hundert Jahre und referieren | |
zurück auf das alte Mesopotamien – zum Beispiel mit dem Bau und der | |
Erfindung von Instrumenten – und auf bestimmte Aspekte der griechischen | |
Antike. Die Phasen aus der Kunstgeschichte, auf die wir uns beziehen, haben | |
wir bewusst ausgewählt. Den Rest haben wir ausgespart. | |
Sie haben an der Akademie der Bildenden Künste München studiert, Ihr | |
Studium aber geschmissen, richtig? | |
Eigentlich wollte ich vor 16 Jahren meinen Abschluss machen. Zu dieser Zeit | |
haben wir mit der Urbesetzung der Chicks On Speed die Seppi Bar in München | |
betrieben – wir bezogen uns damit auf das Cabaret Voltaire in Zürich. Es | |
war eine Plattform der Kommunikation. Wir starteten die Seppi Bar als | |
Kunstprojekt, gelegentlich wurde ein Club daraus. Musiker wie DJ Hell | |
spielten bei uns, wir veranstalteten jede Menge Partys und Performances. Es | |
war eine wilde und laute Zeit. Aber am Ende stand ich ohne Diplom da. | |
Eine typische Art-School-Dropout-Geschichte. | |
Ja. Ich habe zunächst Malerei studiert. Mein Professor gab mir damals den | |
Rat, aus minimalen Farbfeldern und abstrakteren Sachen, die ich malte, ein | |
Markenzeichen zu entwickeln: Melissa Logan Paintings. In 20 Jahren würde | |
sich das etablieren. Immer nur dieselbe Sache! Ich finde Gruppenarbeiten | |
viel spannender; mir geht es darum, Neues zu schaffen. Aber Kollaborationen | |
waren nicht gerade hoch angesehen an der Akademie. Im Übrigen lustig, dass | |
Sie gerade jetzt nach meinem Abschluss fragen. | |
Warum? | |
In dieser Woche habe ich mein Diplom nachgeholt. 2015 habe ich nämlich beim | |
Sommerfest der Münchener Kunstakademie deren Direktor Dieter Rehm | |
getroffen. Er sagte, ich solle endlich mein Diplom machen. | |
Sie haben ein neues Abschlussprojekt vorgelegt? | |
Ja. Ich habe eine Universität gegründet. Sie heißt „University Of Craft | |
Action Thought“ und bezieht sich auf Projekte wie das Black Mountain | |
College in North-Carolina und auf die von Stephan Dillemuth initiierte | |
Münchener Sommerakademie in den Neunzigern. Als erstes gebe ich Diplome | |
aus. 120 habe ich in dieser Woche schon verteilt, insgesamt sollen es | |
Tausende werden. Ich schicke meinem Professor auch eins. Das ist meine | |
Diplomarbeit. | |
Eine Art institutionskritisches Happening wie einst bei den Dadaisten? | |
Ja. Wir beginnen mit dem Ende. Es ist ein Akt der Großzügigkeit, die | |
Diplome zuerst auszugeben. Dieses Stück Papier gibt einem das Gefühl, sein | |
Ziel erreicht zu haben. Es könnte Tausende Dollars wert sein, wenn man es | |
nur in ökonomischer Hinsicht sieht. In den USA verschuldet man sich hoch | |
und verbringt Jahre damit, um dieses Zeugnis zu bekommen. Weitere Aspekte | |
dieser Aktion sind bildungspolitische: Wer entscheidet darüber, wer Diplome | |
bekommt und wer nicht? Vielleicht lernen wir ja besser von jüngeren als von | |
älteren Menschen? Müssen wir Fachrichtungen nicht den neuen | |
Interessenfeldern und dem digitalen Umbruch anpassen? Im | |
Informationszeitalter ist Wissensentwicklung unsere wertvollste Ressource. | |
All dies steckt in diesem Projekt. | |
Die historische Avantgarde ist unter völlig anderen Bedingungen entstanden. | |
Es galt, das bürgerliche Kunstverständnis zu negieren. Es war sehr einfach, | |
die Kunstwelt zu schocken. Heute zahlen Institutionen, auch staatliche, | |
Geld fürs Subversivsein. | |
Aber man kann die Strategien ja hijacken. Ein Beispiel: Es gibt zwei | |
Chicks-On-Speed-Songs namens „Art Rules“ und „Fashion Rules“ – unsere | |
Rezepte, wie man es in der Kunst- und Modewelt zu etwas bringt. In „Art | |
Rules“ kommen Zeilen vor wie: „Whip in some finance a pinch of cocaine / | |
Add a harmless scandal, a media plan all cooked up by a right hand man“ ( | |
„Verrühre ein bisschen Kapital mit einer Prise Kokain, füge einen harmlosen | |
Skandal hinzu, erstelle einen Marketingplan und lass alles vom Assistenten | |
kochen“). Diese Songs haben wir im New Yorker MoMa, im Centre Pompidou in | |
Paris und auch in der Londoner Tate Gallery gespielt – eine subversive | |
Aktion mitten in der Höhle der Löwen. | |
Sie arbeiten sehr interdisziplinär. Wie würden Sie die | |
Chicks-On-Speed-Kunst bezeichnen? | |
Wir nennen es tenticalism (sic). | |
Tenticalism? | |
Ja, Chicks On Speed sind tentakelistisch. Der französische Modedesigner | |
Jean-Charles de Castelbajac, ein Freund Malcolm McLarens, hat uns mal so | |
bezeichnet. Er kam darauf, weil wir von einem bestimmten Punkt ausgehen und | |
dann in viele verschiedene Richtungen aus- und aufbrechen. Vielleicht haben | |
die Dadaisten das auch gemacht, aber damals lag die Konzentration auf dem | |
Schreiben, Collagieren, Performen. Wir wollen nicht einfach eine Art School | |
Band sein, wir wollen in vielen Welten zu Hause sein. Wir haben bei Top Of | |
The Pops genauso wie in der Royal Festival Hall gespielt, wir können an | |
einem Tag bei einem Rave auf Ibiza sein und am nächsten in einem Theater in | |
Hamburg. Und am übernächsten performen wir bis fünf Uhr morgens mit | |
Strippern auf der Bühne. | |
Wie transferieren Sie die Idee der Avantgarde in die Gegenwart? | |
Wir erfinden zum Beispiel neue Instrumente. Vor einigen Jahren haben wir | |
die High-Heel-Gitarre erfunden – eine E-Gitarre in Frauenschuhform. Es war | |
ein Spiel mit Klischees von männlichen und weiblichen Fetischobjekten. Wir | |
beziehen aber auch neue Technologien mit ein. Meine Bandkollegin Alex | |
Murray-Leslie hat gerade einen Wireless-Soundschuh erfunden. Wir setzen ihn | |
bei unseren Performances ein, er löst Sounds aus, wenn man ihn bewegt. Sie | |
will ihn jetzt auch für die Bewegungstherapie weiterentwickeln und | |
Kooperationen mit Ballettensembles starten. Auch das ist irgendwie | |
tentakelistisch. | |
6 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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