# taz.de -- Zeichen und Wunder: Einer, der mit Worten musiziert | |
> Hanns-Josef Ortheil sprach als Kind kein Wort, bis sein Vater verstand, | |
> wie sein Hirn funktioniert. Heute ist er als Autor erfolgreich. | |
Bild: Wichtigster Stoff des Schriftstellers Ortheil: die eigene Lebensgeschicht… | |
HAMBURG taz | Warum ist ein A ein A? Und warum heißt „Eiche“ „Eiche“? … | |
fünfjährige Hanns-Josef Ortheil weiß es nicht. Er zeichnet A auf A, türmt | |
sie über- und nebeneinander, bis er nicht mehr kann. Heute würde man das | |
Dada oder visuelle Poesie nennen, aber in den 1950er-Jahren galt er als | |
gestörtes Kind, das weder schrieb noch sprach. Woran Ortheil fast | |
gescheitert wäre, wenn sein Vater nicht irgendwann entdeckt hätte, wie das | |
Hirn des Sohnes funktioniert: Das will den Gegenstand gezeichnet und dann | |
den Namen drangeschrieben haben, dann merkt er sich das auch. | |
Das ist ein eigentlich philosophischer Ansatz, der an Roland Barthes | |
„Bedeutendes“ (das Ding) und „Bedeutetes“ (dessen Name und Konnotation) | |
erinnert. Und es ist kein Zufall, dass Ortheil, inzwischen 64 und | |
gefeierter Autor, Barthes als wichtigsten Lehrer nennt. Denn Barthes | |
formuliert, was das Kind Ortheil, der bis zu seinem siebten Lebensjahr | |
stumm blieb, früh erfasste: dass die Benennung von Dingen – siehe Barthes‘ | |
„Mythen des Alltags“ – pure kollektiv-gesellschaftliche Willkür ist. | |
„Jede beliebige Materie kann willkürlich mit Bedeutung ausgestattet | |
werden“, hat Barthes gesagt, und das Künstliche dieses Akts spürt das Kind | |
Ortheil sehr genau – erst beim Lauschen und Schreiben, später beim | |
Sprechen. Und er erfasst das Diktatorische des Vorgangs: Es muss genau | |
dieser Laut sein für dieses Ding, den muss man sich merken. Sonst geht | |
Kommunikation schief. | |
Der Übergang vom Schreiben und Reden ist es, der das Kind dann doch noch | |
aus seiner Isolation holt, der Übergang von der Musik zum Schriftstellern | |
auch, denn Ortheil hatte ja eigentlich Pianist werden wollen. Konnte dann | |
aber wegen Sehnenscheidenleiden nicht und musiziert seither mit Worten. | |
Das tut Ortheil, der Mitglied des Autorenverbandes PEN und Direktor des | |
„Instituts für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft“ der | |
Universität Hildesheim ist, seit seinem Debüt-Roman „Fermer“ von 1979 ohne | |
Pause. Er hat über das Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre, über Musik, | |
das Dichten, über Liebe und Reisen geschreiben. Das alles oft mit | |
„altmodischem“ Happy-End. | |
Wichtigster Stoff ist allerdings seine Lebensgeschichte. In mehrere Romane | |
hat er sie gewoben, die sich nicht als banale Autobiographien verstehen, | |
sondern als Tiefenbohrungen in die eigene Psyche hinein. Als Suche nach | |
diesem früh klug schreibenden Kind, das jahrelang stumm Worte sammelte. | |
Wann Kinder- zu Erwachsenenworten werden und was sie unterscheidet, hat er | |
in vielen Romanen ergründet. | |
Herausgekommen sind collagenartige, aus der Erfahrung zweier Lebensalter | |
geborene Zwitter: Kinder- und Erwachsenentexte stehen etwa in „Die | |
Moselreise“ und „Die Berlinreise“ dicht nebeneinander, verlinkt durch | |
Reflexionen des erwachsenen Erzählers. | |
Wichtigster Schlüssel zu Ortheils Biographie ist aber „Die Erfindung des | |
Lebens“, ein sehr persönlicher Entwicklungsroman von 2009, der ganz ohne | |
Kindheitszitate auskommt. „Das ist das erste Buch, das ich ohne ein solches | |
Skizzenbuch geschrieben habe“, hat Ortheil einmal gesagt. „Ich habe mich | |
einfach hingesetzt und hatte das Gefühl, ich fahre durch einen Tunnel, und | |
hoffentlich bleiben die Bilder und kommen sie wieder.“ Sie kamen und | |
flossen als unterhaltsam-tiefgründige Geschichte seiner Kindheit quasi „am | |
Stück“ heraus. | |
Zentrales Thema bleibt dabei immer die Erforschung dessen, was während | |
seiner stummen Jahre in seinem Hirn passierte. Diese Ära erscheint ihm | |
immer noch „wie eine auch unheimliche Zeit. Als hätte ich an einer | |
gefährlichen Krankheit gelitten, die jederzeit wieder ausbrechen kann, ohne | |
dass irgendjemand ein Medikament dagegen weiß“, schreibt er in seinem 2015 | |
edierten Roman „Der Stift und das Papier“. | |
Und weil Ortheil schon immer das Experimentieren liebte, hat er in diesem | |
Buch einen anderen Zugang getestet, den man vielleicht „Hingabe an den | |
Raum“ nennen könnte. Dazu setzt sich der Erwachsene in die Jagdhütte, wo | |
sein Vater, der Landvermesser, jene „Schreibschule“ ersann und | |
praktizierte, durch die Ortheil schreiben, später schriftstellern lernte. | |
Und siehe da, die Erinnerung kommt schnell, als hätte der Raum sie all die | |
Zeit aufbewahrt. Sogar der Duktus des Kindes ist wieder da, wenn es | |
gewissenhaft und andächtig seine Werkzeuge beschreibt – Papier und Stift. | |
Und wenn er seiner eigenen Vergangenheit nachspüren kann, dann muss das | |
auch mit fremder gehen: Vielleicht hat Ortheil so gedacht, denn genau das | |
tut er in der Hommage „Die Pariser Abende des Roland Barthes“, das er – | |
zusammen mit Barthes „Pariser Abenden“ Ende 2015 zu einem Bändchen | |
vereinte. | |
Vorausgegangen war eine Reise ins Paris des vor 100 Jahren geborenen Roland | |
Barthes. Sehr akribisch suchte Ortheil da Cafés, Restaurants, Straßen auf, | |
die Barthes 1979 allnächtlich durchstreifte und in schmalen Notizen | |
reflektierte. Sogar im Cafe gegenüber Barthes‘ einstigem Wohnhaus nimmt | |
Ortheil Platz, als müsse der Philosoph gleich heraustreten. | |
Und was auf den ersten Blick wirkt wie schlichte Bewunderung eines | |
Schülers, erweist sich als „Verlagerung“ im Barthesschen Sinne: Ortheil | |
führt – exemplarisch und experimentell – fort, was Barthes an diesem oder | |
jenem Ort vermutlich sah, aß, trank und reflektiert diese Vermutungen dann. | |
Er entwickelt sie ins Heute weiter, macht sich aber nicht zum Schatten: Mal | |
bestellt er, was Barthes bestellt hätte, mal, was Ortheil selber schätzt. | |
Es ist kein anbiederndes Einfühlen, sondern ein emanzipiertes. Vielleicht | |
auch ein Spiel. Ein gelungenes Nach-Spiel. | |
10 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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