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# taz.de -- Spurensuche zu Dada: Das Zürcher Reizklima
> Vor hundert Jahren hatte die Moderne ihren Urknall. Zum Jubiläum hat man
> sich in Zürich viel Mühe gegeben und präsentiert spielerisch Zeitkritik.
Bild: Shop mit Souvenirs zum Thema Dada im Zürcher Club Voltaire
Ein riesiger Tintenklecks, über dem „La Sainte Vierge“ steht, ein
Männergesicht, das von hochhackigen Damenschuhen eingerahmt wird, ein
vergilbtes Foto von einem Mann, auf dessen Stirn „Section de merde
…allemande“ steht: Beiträge von Dada-affinen Künstlern für den „Dadagl…
ein Buchprojekt Tristan Tzaras. Um die 160 Werke lagen vor. Gedichte,
TeZeitlebig aktuellSpurensuche zu Dada – hundert Jahre nach dem Urknall der
Modernexte wie Elsa Baroness von Freytag Loringhovens „Aja ja hacha
huhuluk“, Zeichnungen, verrückte Collagen, Fotomontagen von John
Heartfield.
„Wäre die Anthologie 1921 tatsächlich erschienen, würde sie heute
zweifellos zu den ehrgeizigsten Veröffentlichungen der Dada-Bewegung
zählen“, heißt es im Begleittext zur Ausstellung „Dadaglobe Reconstructed…
die versucht, das Projekt im Kunsthaus Zürich zu rekonstruieren.
Man hat sich damit gewiss viel Mühe gegeben. Aber ist es nicht
folgerichtig, dass das Projekt – wahrscheinlich aus Geldmangel – nicht
zustande kam? So witzig und originell die Beiträge sind – der Geist von
Dada, der überraschen, provozieren, mit Tabus und Konventionen brechen
wollte, lässt sich nur bedingt konservieren. Ist in Zürich noch etwas übrig
geblieben von der Bewegung, die Hugo Ball und Emmy Hennings hier vor
hundert Jahren begründeten? Oder ist der Urknall der Moderne nur noch
Geschichte, an die man jetzt mit Ausstellungen oder Tanzperformances im
Hauptbahnhof erinnert, um nicht ganz so bieder zu wirken?
Der Stadtplan „Dada Stadt Zürich“ hilft, der Frage im wortwörtlichen Sinn
nachzugehen. Ja doch: Es gibt sie noch, die Orte, an denen die Dadaisten
ihre Spuren hinterlassen haben. Das elegante Café de la Terrasse am
Limmatquai zum Beispiel, in dem Hans Arp, Walter Serner und Tristan Tzara
ihr Kollektivgedicht „Die Hyperbel vom Krokodilcoiffeur und dem
Spazierstock“ zu Papier brachten.
Auch das benachbarte Café Odeon, einst wichtigster Emigranten- und
Künstlertreffpunkt, steht noch. Ebenso wie das über 370 Jahre alte
Zunfthaus zur Waag, wo am 14. Juli 1916 bei der 1. Dada-Soirée Hugo Ball
aus dem Dada-Manifest las: „Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man
Dada sagt. Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und
feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit.“
## Kalbsgeschnetzeltes mit Rösti
Heute sagt hier keiner mehr Dada, schon gar nicht bis zur Bewusstlosigkeit.
Stattdessen lassen sich in den gediegenen historischen Räumlichkeiten
Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Banker und Touristen vorzügliches Zürcher
Kalbsgeschnetzeltes mit Kartoffelrösti schmecken, um die sechzig Portionen
pro Tag. Immerhin will Geschäftsführer Sepp Wimmer am 14. Juli mit einer
spektakulären Hommage die legendäre Dada-Soirée in Erinnerung rufen.
„Noch vor einem Jahr konnten die meisten Zürcher mit Dada nicht viel
anfangen“, meint Stadtführerin Barbara Dörig. Erst als die Stadt 2016 zum
Jubiläumsjahr des Mouvement ausrief, seien viele auf den Zug aufgesprungen.
„Aber wenn jetzt plötzlich jede dritte Buchhandlung oder
Unterwäschegeschäfte, die sich sonst nie für Kunst interessieren, ihre
Schaufenster mit Dada dekorieren, wird es schon clownesk“, gibt Jonathan
Dreyfuss, Betreiber des Hotels Limmatblick, zu bedenken.
Auch sein kleines, im Jahr 2001 eröffnetes Haus huldigt mit einer Dada-Bar
den einstigen Kreativen. Doch das sei kein Marketinggag. Schließlich hätten
die Besitzer jahrelang Kunstwerke, schräge Installationen und Dokumente
zusammengetragen, um ihren Gästen den Geist jener Zeit nahezubringen.
Außerdem will man sie mit nicht angekündigten Dada-Aktionen überraschen.
## Der Geburtsort von Dada
Auch im Cabaret Voltaire, dem Geburtsort von Dada, der ein paar Schritte
weiter in der Spiegelgasse 1 das Jahrhundert überdauert hat, wird man
überrascht. Nicht unbedingt vom Shop, dem Café und der Ausstellung
„Obsession Dada“, die im Keller des Hauses zu sehen ist. Viel eher von den
morgendlichen Offizien.
Denn Adrian Notz, Leiter des Cabaret Voltaire, ist verrückt genug, um an
jedem Morgen um 6.30 Uhr einer Dada-Persönlichkeit zu huldigen. Morgen für
Morgen, an 165 Tagen. So quält sich mancher, wenn der Zürichsee noch im
tiefen Nebel liegt, aus dem Bett, um – bei freiem Eintritt – der
Gedenkstunde beizuwohnen, in der Notz neben Voltaires Büste Texte von Hans
Arp oder André Breton verliest und dabei auch nicht mit Weihrauch spart.
„An manchen Tagen bleibe ich allein“, gibt Notz zu. Doch als Hoher Priester
des Dadaismus fühlt er sich nun mal dem Zürcher Reizklima verpflichtet, das
in der gepflegten Banken- und Lifestylemetropole nicht gänzlich verpuffen
soll. Hin und wieder findet er auch Mitstreiter wie die Teilnehmer einer
Dada-Prozession, die an einem Februarsamstag durch die City zog. Mit
riesigen Schamanenmützen à la Hugo Ball verkleidet tanzten sie durch die
Fußgängerzone, schreckten Passanten aus ihrer Shopping-Laune auf und ließen
sich am Großmünster von Pfarrer Christoph Sigrist empfangen.
Der dann prompt eine Dada-Predigt hielt: „So sicher wie das Amen in der
Kirche folgte in den letzten Wochen auf meine Bestätigung, dass ich heute
Nachmittag im Zusammenhang des Dada-Jubiläums eine Predigt halte, das GAGA
aus entrüstetem Mund …„, konstatierte er und blödelte über den „Blöds…
für den Huldrich Zwingli, zuerst Priester für die Leute, weiter Herr im
Chor mit anderen Chorherren, dann Reformator von Zürich, ein offenes Herz
habe“.
## Die neue Moderne im Industrieviertel
Also weht ab und zu doch noch ein frischer Wind durch die brave
Limmatstadt? Aber ob es tatsächlich auch ein kreatives Reizklima gibt? Wo
ließe sich das am ehesten verorten? In Zürich-West vielleicht, dem
ehemaligen Industrieviertel, das heute als Trendquartier gefeiert wird?
Hier soll es ja mehr Techno-Clubs pro Einwohner als in Berlin geben.
Stolz zeigt man Besuchern das Löwenbräu-Areal, in dem sich mit einigen
Galerien und dem migros museum für Gegenwartskunst viel zeitgenössische
Kultur breitgemacht hat. Ein Stück weiter erhebt sich der aus Containern
bestehende Freitag Tower, Flagship Store der Individual Recycled
Freewaybags aus gebrauchten Lkw-Planen oder Fahrradschläuchen. Vom Dach
blickt man auf Frau Gerolds Garten, ein zaghafter Versuch in Urban
Gardening.
Gewiss sieht es hier anders aus als am Münsterplatz oder am Limmatquai.
Aber Avantgarde? Auch Klubbetreiber Tom Rist räumt ein, dass in Zürich-West
die Zeit der Zwischennutzung vorbei und das meiste schon arg etabliert ist.
Wenn hier etwas hervorsticht, dann ist es seine „Kuratierte Helsinki
Jukebox“, in der beispielsweise Anna Freys zu Florian Stoffners
Gitarrenklängen mit Texten auf Schweizerdeutsch rappt. „Sodeli ein bisschen
mehr Courage, die legt die Angst flach“, empfiehlt Rist auf der Website des
Helsinki Klubs und verspricht, „ein Wort klaut zum Pudel, in Norden
geherzt, wir bleiben hart Steuerbord auf Euch!“.
## Ein Kandelaber aus beleuchteten Unterhosen
Das klingt dann schon ein bisschen Dada. Und erinnert an das, was seine
Schwester im Kunsthaus unter dem Motto „Dein Speichel ist mein Taucheranzug
im Ozean des Schmerzes“ präsentiert. In direkter Nachbarschaft zur
Ausstellung „Dadaglobe Reconstructed“ entführt Pipilotti Rist in
geheimnisvoll abgedunkelte Räume, in der großformatige Videos,
Installationen und Objektassemblagen von 1986 bis heute zu sehen, zu
begehen und zu hören sind.
Mal findet man sich in einem Pixelwald aus 3.000 LED-Leuchtkörpern wieder,
die wie „ein im Raum explodierter Bildschirm“ anmuten, mal bahnt man sich
den Weg durch skurrile Konstruke – „Selbstlos im Lavabad“,
„Schminktischlein mit Feedback“ –, vorbei an einem Kandelaber aus
beleuchteten Unterhosen, um schließlich in einem Saal mit raumfüllenden
Videos anzukommen. Ebenso suggestive wie verstörende Großaufnahmen von
Früchten, blühenden Wiesen, Haut oder wippenden Brüsten flimmern über die
Wände.
Dann wieder eine Frau im hellblauen Sommerkleid, die fröhlich durch die
Straßen läuft und dabei immer wieder auf Autofenster einschlägt. Eine
opulente „Augapfelmassage“, wie Pipilotti Rist sie selbst nennt, die mit
Konventionen und Tabus bricht, einen hellwach macht und dennoch viel
Heilsames in sich birgt. Zeitkritik ohne Zeigefinger. Spielerisch, witzig,
sinnlich. Und ziemlich Dada.
27 Mar 2016
## AUTOREN
Ulrike Wiebrecht
## TAGS
Zürich
Dada
Gegenwartskunst
Reiseland Schweiz
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