# taz.de -- Neues Album von Tortoise: „Wir respektieren uns als Individuen“ | |
> Tortoise-Schlagzeuger John McEntire über die Alltagsängste der Amerikaner | |
> seit der Bush-Ära, den Staub von Rockmythen und Musikhören am Laptop. | |
Bild: En garde! Tortoise beim Ausfechten von Klangideen, John McEntire, ganz re… | |
taz: Herr McEntire, 2015 war ein katastrophales Jahr, dessen Auswirkungen | |
weltweit zu spüren sind. Was hat der Titel Ihres neuen Albums „The | |
Catastrophist“ damit zu tun? | |
John McEntire: Unser Schlagzeuger John Herndon hat den Titel eingebracht, | |
„The Catastrophist“ heißt auch ein Roman von Ronan Bennett, der 1998 | |
erschienen ist. Sein Titel hat gewissermaßen vorweggenommen, womit wir uns | |
jetzt konfrontiert sehen. Seit der Ära von George W. Bush leben wir in | |
ständiger Angst, dass etwas Schreckliches passiert. Das erleben wir jetzt | |
fast täglich. | |
Beteiligt sich der „Catastrophist“ an Katastrophen oder beobachtet er sie? | |
Vielleicht ist er für die Katastrophen verantwortlich. Wir nehmen den | |
Titel, die Bildsprache des Covers und die Musik, um Spuren zu legen. Das | |
Rätsel müssen die Zuhörer lösen. | |
In der Anfangszeit der Band, 1994, lebten Sie zusammen in einem Loft in | |
Chicago und entwickelten Ihre Formensprache. Heute haben diverse | |
Rockmythen, auch der der männlichen Musikergemeinschaft, Staub angesetzt. | |
Haben Sie eine Erklärung, warum die Besetzung Ihrer Band nahezu unverändert | |
ist und weiter interessante Musik entsteht? | |
Wir respektieren uns als Individuen und geben einander den nötigen | |
Freiraum. Das kann auch heißen, eine lange Auszeit von der Band zu nehmen. | |
Ansonsten sind wir basisdemokratisch organisiert. Inzwischen leben Jeff | |
Parker und John Herndon in Los Angeles, weil ihre Frauen dort Jobs haben, | |
das ist für die Arbeitsabläufe von Tortoise nicht hinderlich. | |
Als Sie anfingen, gemeinsam Musik zu machen, waren Sie Teil einer | |
alternativen Szene. Sie leben noch immer in Chicago. Wie nehmen Sie Ihr | |
Umfeld heute wahr? | |
Das Lokalkolorit des Chicago der frühen Neunziger ist so gut wie | |
verschwunden. Es existieren nur noch wenige Orte von damals. Geblieben sind | |
Freunde aus der Musikszene, aber es ist anonymer als früher. Manchmal fühlt | |
es sich an wie in einer x-beliebigen Stadt. 2014 bin ich mit meinem Studio | |
umgezogen, es war an der Zeit, etwas anderes zu machen. | |
2010 haben Sie sich im Auftrag des Chicagoer Kulturreferats mit der | |
Jazzszene Ihrer Heimatstadt auseinandergesetzt. Was haben Sie | |
herausgefunden? | |
Eine reizvolle Arbeit, weil es zwischen den verschiedenen Musikszenen regen | |
Austausch gibt. Bei diesem Auftrag ging es darum, die JazzmusikerInnen in | |
unsere Musik einzubinden. Es war spannend, Stücke für Flöte, Alt- und | |
Tenorsaxofon zu komponieren in dem Wissen, dass Nicole Mitchell, Ernest | |
Dawkins (beide Mitglieder der AACM, d. Red.) und Greg Ward improvisieren | |
würden. Wir spielten Konzerte mit ihnen und dem Cellisten Fred Lonberg-Holm | |
und Jim Baker an Klavier und ARP-Synthesizer. Diese Jazzgigs waren ein | |
spezielles Format. | |
Woraus dann die Musik für „The Catastrophist“ entstand. | |
Das war nur das Basismaterial, wir mussten es wesentlich verändern, um | |
daraus im Studio Songs von Tortoise zu gestalten. Wir haben vieles neu | |
instrumentiert und anders strukturiert. Auf dem Album haben wir die Bläser | |
nur simuliert. Weil wir zu fünft mit dem Material umgehen wollten. | |
Sie sagten einmal zur Arbeitsweise von Tortoise, ein Track sei nie | |
abgeschlossen, sondern bloß eine mögliche Version. Wie ist das bei „The | |
Catastrophist“? | |
Damals war der Remix zentral für unser Konzept. Aber von dieser Denkweise | |
haben wir uns im Laufe der Jahre wieder entfernt. Heute sind die Songs | |
abgeschlossene Kompositionen. | |
Einen der beiden tollen Songs mit Vocals auf „The Catastrophist“ singt | |
Georgia Hubley von der Band Yo La Tengo. | |
Wir haben sie eingeladen, wussten aber nicht genau, was sie beisteuern | |
könnte. Dieses Stück war zwar als Instrumental fertig, es fehlte aber noch | |
ein Element. Sie hat dann daran weitergearbeitet und auch den Songtext für | |
„Yonder Blue“ geschrieben. | |
Als Musiker und Toningenieur von Tortoise üben Sie eine Doppelrolle aus. | |
Sie spielen Schlagzeug, Keyboards und Vibrafon und sind gleichzeitig mit | |
der Aufnahme beschäftigt. Kommen Sie sich dabei selbst in die Quere? | |
Seltsam, aber ich denke darüber nicht nach, weil ich seit Langem in | |
doppelter Funktion arbeite. Am Anfang habe ich noch versucht, die Seiten zu | |
wechseln, mittlerweile vermischt sich alles in einem Arbeitsprozess. Das | |
genieße ich sehr. | |
Entwickeln Sie im Studio eine Vorstellung davon, wie sich die fertigen | |
Songs in verschiedenen Räumen einmal anhören werden? | |
Viele Menschen hören Musik nur noch über Kopfhörer oder auf dem Laptop. Das | |
erfordert gewisse technische Überlegungen. Ich versuche, mich nicht zu sehr | |
davon beeinflussen zu lassen. Es würde schrecklich klingen, wenn ich | |
versuchen würde, Musik für Laptop zu produzieren. | |
Sie beschreiben „The Catastrophist“ als eine Reflexion darauf, wie Tortoise | |
live klingt. Wie stellen Sie eine lebendige Atmosphäre im Studio her und | |
wie unterscheidet sich diese vom Bühnensound? | |
Die Studioarbeit hat nicht viel mit den Auftritten zu tun. Unsere Aufnahmen | |
amalgamieren, was jeder von uns individuell macht. Liveness im Studio | |
bedeutet buchstäblich, dass mehrere Personen zur gleichen Zeit spielen, was | |
selten genug der Fall ist. Dann funktioniert die Interaktion aber | |
großartig, wir kommunizieren durchgehend miteinander. Wie wir die Songs | |
live präsentieren, finden wir erst in den Proben heraus. | |
In Ihrem Studio entstand auch der Soundtrack von Tortoise zu dem Horrorfilm | |
„Lovely Molly“ von Eduardo Sánchez. Haben Sie erst den Film gesehen und | |
dann den Score eingespielt? | |
Ja, es waren allerdings nicht einmal richtige Stücke. Denn jedes Mal, wenn | |
wir etwas vorlegten, das sich auch nur im Entferntesten nach Musik anhörte, | |
wurde uns gesagt, das würde nicht funktionieren. Also fingen wir an, | |
Klaviersaiten zu zupfen und das Instrument so um zwei Oktaven zu | |
verstimmen. Das Resultat ist Sound Design, es unterstützt die Handlung. | |
Daran zu arbeiten war ganz anders als unsere eingespielte Routine beim | |
Aufnehmen eigener Songs. | |
Schreiben Sie solche Ideen eigentlich auf? | |
Gitarrist Jeff Parker und ich benutzen mitunter die traditionelle Notation, | |
wir haben beide die Musikhochschule besucht. In seinem Archiv hat er eine | |
Menge komponiertes Material, das er noch weiter ausarbeitet. Als Band | |
improvisieren wir aber meistens und nehmen diese Fragmente am liebsten so | |
schnell wie möglich auf, um sie zu erinnern. | |
Stilbildend für Tortoise waren Ihre Verwurzelung in der Punkszene und | |
Einflüsse aus HipHop, House und Dub. Die Musik entstand in einem Netzwerk. | |
Heute sind Karrieren von Experimentalmusikern kaum noch ohne | |
Hochschulabschluss möglich. Gibt es weniger Schlupflöcher? | |
Bevor das Internet aufkam, wurde Musik ganz anders wahrgenommen und die | |
Menschen entwickelten ihre eigenen Ideen von einer Szene. Seit der | |
Digitalisierung von Musik haben sich nicht nur Hörgewohnheiten verändert, | |
dieser Wandel wirkt sich auch destruktiv auf den Kern eines Werks aus. | |
Niemand hat mehr den Antrieb, eine LP von Anfang bis Ende durchzuhören. | |
Weil alle beim Musikhören ihre E-Mails checken. | |
Und nebenher für 10 Sekunden einen Track hören und dann den nächsten. Ich | |
hoffe immer, dass unsere Hörer sich auf unsere Musik einlassen. | |
4 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
Franziska Buhre | |
## TAGS | |
Musik | |
Chicago | |
Jazz | |
Free Jazz | |
Klavier | |
Chicago | |
Konzert | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
US-Jazzer Jeff Parker auf Tour: Karambolage der Stile | |
Im Jazz geerdet, im HipHop gereift: US-Gitarrist Jeff Parker, bekannt für | |
seine Tätigkeit bei Tortoise, ist mit seinem neuen Album „The New Breed“ | |
auf Tour. | |
Free-Jazz-Saxofonist Mats Gustafsson: Kontrolle, um alles zu geben | |
Der Saxofonist Mats Gustafsson ist unermüdlich unterwegs. Beim A l’arme! | |
Festival in Berlin präsentiert er zwei seiner wichtigsten Bands. | |
Türkische Pianistin covert Nirvana: Smells like Chopin | |
Ayşedeniz Gökçin spielt Nirvana-Songs auf dem Klavier. Und wie bei den | |
meisten Covers gilt auch hier: je weiter entfernt vom Original, desto | |
besser. | |
Experimente am Synthesizer: Oszillierender Synästhetiker | |
Songs zu Sinuswellen: Der Chicagoer Künstler Sam Prekop und sein | |
beeindruckendes Elektronik-Album „The Republic“. | |
Neues Album von The Sea And Cake: An den Quellen des reinen Sounds | |
Die Band The Sea And Cake aus Chicago kommt für drei Konzerte nach | |
Deutschland. Das passiert nicht so oft. |