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# taz.de -- Manipulation von Russlanddeutschen: Katerstimmung in Marzahn
> Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist Russlands Propaganda besonders
> erfolgreich. Doch auch die NPD wittert Wählerstimmen.
Bild: Leicht mobilisierbar? Demonstrierende Russlanddeutsche vor dem Kanzleramt…
Berlin taz | Da ist sie, die Schokolade mit dem pausbäckigen Mädchen
Aljonka darauf und daneben die berühmten Bonbons mit Vanilleduft aus der
Moskauer Fabrik Roter Oktober, lose im Regal – ein Bollwerk gegen die
Snickerisierung der russischen Alltagskultur. Es steht im Mix Markt, dem
russischen Minikaufhaus in Marzahn-Hellersdorf, wo etwa 30.000
Russlanddeutsche leben und damit über zehn Prozent der Gesamtbevölkerung
des Bezirks stellen.
Die goldbunten Bonbonpapierchen präsentieren Märchenszenen, schönere als
die Programme der russischen Fernsehsender, die im Januar die Geschichte
des entführten, mehrfach von „Asylanten“ vergewaltigten Mädchens Lisa aus
diesem Bezirk erst erfanden und dann mit gefakten Beweisen würzten. Während
damals in ganz Deutschland rund 10.000 Russlanddeutsche für „unsere Lisa“
und den Schutz ihrer Frauen und Kinder demonstrierten, bezichtigte
Russlands Außenminister Lawrow die deutsche Polizei, Tatsachen zu
vertuschen. Stattdessen hat nun die Berliner Staatsanwaltschaft ein
Ermittlungsverfahren gegen den russischen Journalisten eingeleitet.
„Und doch war etwas dran!“, ruft eine schmale Rentnerin. „Ich traue der
deutschen Polizei nicht mehr!“, klagt sie hochemotional. Und den deutschen
Medien auch nicht – denn ihren Namen möchte sie auf keinen Fall preisgeben.
„Diese Gesetzlosigkeit in Russland, das war ein Grund herzukommen“, sagt
sie. „Dass die Polizei in Deutschland höflich mit uns umging, war für uns
neu. Da haben wir geglaubt: Hier ist wirklich etwas anders.“
Die Russin, mit einem Russlanddeutschen verheiratet, beamt sie sich
souverän zwischen den Völkern hin und her: „Ich wollte dem Außenminister
Lawrow Danke schön sagen für ‚unsere Lisa‘. Das hat er gemacht, nicht weil
er die Russlanddeutschen als fünfte Kolonne benutzen will, sondern er sieht
sie als ein Teil des Volkes.“
## Die Jungen glotzen deutsch
Zwei Halbwüchsige streben der Truhe mit losen Sonnenblumenkernen zu und
diskutieren auf Rapidmarzahnerisch. Die Brüder Witja und Wowa sind plus
minus fünfzehn. „Lisa, nee interessiert uns nich“, sagen sie. „Wir machen
Sport und sehn Sport: auf unsrer eignen Glotze, auf Deutsch! Unsre Eltern
ham ihre, wenn se wat übersetzt brauchn, erledijen wer det.“ Wie fast alle
Personen über 45 hier gucken die Eltern ausschließlich russische Kanäle.
Bis Mitte der 1990er Jahre galt Marzahn-Hellersdorf als Problembezirk.
Nazi-Gruppierungen aus dem Umland griffen immer wieder russlanddeutsche
Gangs an. Russischsprechende Kinder wagten nicht, sich auf dem S-Bahnhof
laut zu unterhalten. In den folgenden Jahren beruhigte sich der Bezirk.
Russlanddeutsche Eltern investieren in der Regel viel in eine gute
Ausbildung ihrer Kinder. Die Plattenbauten wurden bunter, Wohnungen hier
sind heute gefragt.
Doch was längst Vergangenheit war, scheint sich jetzt zu wiederholen. Die
rechte Gewalt hat im Zuge der Flüchtlingskrise zugenommen. Laut
Verfassungsschutz kam es seit Januar 2014 von allen Berliner Bezirken in
Marzahn-Hellersdorf zu den meisten Anschlägen gegen Flüchtlingsheime – 29
auf 5 Unterkünfte. Jetzt sind es Flüchtlingskinder, die auf der Straße
angegriffen werden.
## Die NPD wirbt um sie
Die NPD spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Demonstration am 23. Januar
vor dem Kanzleramt gegen angeblich von Flüchtlingen ausgehende sexuelle
Gewalt wurde von NPDlern besucht, eine Kundgebung vor dem Einkaufszentrum
Eastgate von der NPD selbst veranstaltet. Die Partei wirbt verstärkt unter
ihren Mitgliedern dafür, die Russlanddeutschen willkommen zu heißen.
Sind die Russlanddeutschen in Marzahn-Hellersdorf dabei, sich zu
rechtsradikalisieren?
Diese Frage treibt auch eine antifaschistische Gruppe aus den Berliner
Randbezirken um. Sie hat viel zu diesem Thema recherchiert, zwei Aktivisten
finden sich schließlich zu einem konspirativen Treffen bereit.
„Russlanddeutsche waren erst seit Januar an Angriffen auf Flüchtlingsheime
beteiligt – seit dem Fall Lisa“, ist das Ergebnis ihrer Recherche. Auf der
Facebook-ähnlichen Seite Odnoklassniki.ru haben sie massenhaft auf Russisch
untertitelte Karikaturen in „Stürmer“-Manier mit der Darstellung
vergewaltigungsbereiter Flüchtlinge gefunden. Dazu Sprüche wie: „Wenn die
eingeborenen Deutschen nicht einmal in der Lage sind, für sich selbst
einzustehen, so sind unsere Landsleute sehr viel geschlossener und bereit,
ihre Interessen zu verteidigen. Wir sind von klein auf dazu erzogen, Paroli
zu bieten, wenn man uns schlägt. Und glaubt mir, die Geschichte mit Lisa
ist nur der Anfang.“
## Leicht zu mobilisieren
Eine besondere Gefahr erblicken die antifaschistischen Aktivisten in den
hiesigen Russlanddeutschen jedoch nicht: „Entsprechende deutsche Seiten
sehen genauso aus und zeigen – zynisch ausgedrückt –: Auch in dieser
Hinsicht sind die Spätaussiedler bei uns gut integriert. Aber durch ihr
hohes Stimmungspotenzial, die schnelle Verbreitung von Gerüchten unter
ihnen, ihre hohe Bereitschaft, innerhalb der Community zu helfen, ihre
guten Strukturen, lassen sie sich leicht in Bewegung setzen.“
Dass man die Russlanddeutschen jüngst auch in überregionalen Zeitungen als
„Deutschrussen“ oder gar „Russen aus Marzahn“ bezeichnete, erbost Medina
Schaubert. Sie selbst hat ihre russischen Freunde gern. Aber in ihrer
Familie hat man immer deutsch gesprochen, wenn auch einen historischen
schwäbischen Dialekt.
Vor ihrem Ökonomie-Studium machte die 29-Jährige eine Ausbildung als
medizinisch-technische Assistentin. In diesem Beruf jobbt sie heute, denn
die ehrenamtliche Tätigkeit frisst Zeit. Medina Schaubert ist
stellvertretende Vorsitzende der Marzahner CDU und im Integrationsausschuss
des Bezirks mit zuständig für die Flüchtlingsheime.
## Als Russlanddeutsche deportiert
Warum CDU? „Wegen meiner christlichen Grundwerte“, erklärt sie. Ihr
Urgroßvater sei in Russland evangelischer Pastor gewesen und wurde während
der Stalin’schen Säuberungen 1937 erschossen, weil er seinem Glauben nicht
abschwor. Als Stalin die Russlanddeutschen deportieren ließ, karrte man die
Schauberts von der Krim nach Kasachstan – in Viehwaggons ohne Proviant.
Einen Großonkel von Medina Schaubert fanden kasachische Hirten als
Vierjährigen in der gefrorenen Steppe neben zwei Frauenleichen, seiner
Mutter und Großmutter. Alle drei hatte man geschwächt aus dem Zug gekippt.
„Die Kasachen haben uns Lebensmittel gegeben, als sie fast selbst nichts
hatten. Bei Familienfesten ließen wir sie immer hochleben“, erinnert sich
Schaubert. Schon deshalb hege sie keine Vorurteile gegen fremd aussehende
Menschen. Die Jungpolitikerin ist unterwegs zu ihrem Parteigenossen
Alexander Reiser.
Hellersdorfs prominentester Russlanddeutscher ist Buddhist. Auch Reiser
stammt aus einer rein deutschsprachigen Familie. Der Vater einer
erwachsenen Tochter wohnt heute mit seiner russischen Ehefrau Oksana, einer
Japanologin, und dem sahnefarbenen, plüschäugigen Yorkshireterrier Max in
einem der Mehrfamilienhäuschen mit nur wenigen Stockwerken, die es in
Marzahn-Hellersdorf neben den Plattenbauten auch gibt. Er fühlt sich mitten
im Grünen und schaut beim Arbeiten gern in die Baumwipfel. In dem asiatisch
angehauchten Interieur leuchtet eine goldene Buddha-Statue auf dem Regal.
## Im permanenten Ausnahmezustand
Ohne seine Meditationsübungen hätte der 52-Jährige wohl den permanenten
Ausnahmezustand der letzten Wochen nicht überlebt. Als Vorsitzender des
Vereins Vision e. V., der sich um die Integration seiner Landsleute bemüht,
hatte er auf der Demonstration „für unsere Lisa“ am 23. Januar am
Kanzleramt dazu aufgerufen, die polizeiliche Untersuchung abzuwarten.
Daraufhin „haben mich die Ordnungskräfte des Veranstalters aus der Menge
gedrängt. Einige aufgebrachte Teilnehmer griffen mich dann am Rande der
Kundgebung verbal an, ein ehemaliger Afghanistankämpfer geriet in Rage und
drohte, mich mit einem Schlag ‚auszuschalten‘.“
Reiser, in der UdSSR unter anderem Matrose und Journalist, kam nach
Deutschland um der Freiheit willen. Und benahm sich hier wie ein freier
Mensch: „Es gab wilde Gerüchte: Wir bekämen fertige Häuschen hingestellt
und Riesenrenten, obwohl wir doch keinen Tag in Deutschland gearbeitet
hätten. Das war sehr verletzend. Aber ich hatte keinen Moment einen
Zweifel: Dies hier ist mein Land und ich selbst werde dafür sorgen, hier
heimisch zu werden.“
„Von den 700 Leuten bei der Demonstration vor dem Kanzleramt waren 400
einfach bloß da, weil sie sich persönlich für Lisa einbringen wollten“,
meint Reiser. Doch er räumt ein, dass viele auch ihren sozialen Status
durch die Flüchtlinge bedroht sehen. Den Sozialneid, den die
Russlanddeutschen früher selbst zu spüren bekamen, richten sie jetzt gegen
andere.
„Die meisten von ihnen gehören jetzt zum Mittelstand, sie haben sich ein
Häuschen gebaut, gehören zu einer Kirchengemeinde und fürchten, dass durch
die Flüchtlinge ihr bescheidenes, hart erarbeitetes Leben wieder in dem
Chaos versinkt, das sie im Russland der 90er Jahre erfuhren.“
Reiser gehört einer WhatsApp-Gruppe von Russlanddeutschen an, die um die
große Demo herum entstand. „Da herrscht heute großer Katzenjammer, viele
fühlen sich von den russischen Medien hereingelegt“, versichert er. „Es
wird noch lange dauern, bis dieser Dreck von uns abgetropft ist“, zitiert
er eine Teilnehmerin. Eine andere schreibt: „Das konnte ich nur zusammen
mit einer ganzen Tafel Schokolade runterschlucken.“
14 Feb 2016
## AUTOREN
Barbara Kerneck
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
NPD
Vergewaltigung
Berlin Marzahn-Hellersdorf
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