Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Medienfälschungen in Russland: Skandalzeugen auf Bestellung
> Russische Medien kaufen sich Zeuginnen, um Storys aus Deutschland zu
> skandalisieren. Journalisten decken das Geschäft nun auf.
Bild: Nicht jede Propaganda ist so dezent wie diese.
Berlin taz | Eine junge Frau erzählt mit bebender Stimme und in fließendem
Russisch im Fernsehen von einer Bekannten, die als Putzfrau in einem
Flüchtlingsheim in Hannover gearbeitet habe und von Insassen erst
vergewaltigt und dann umgebracht worden sei.
Viktoria Schmidt, so heißt die Frau angeblich, lebt auch in Hannover. Sie
traue sich nicht mehr ohne Gaspistole auf die Straße, weil in Deutschland
mittlerweile überall die Gefahr lauere, von aggressiven Flüchtlingen
angegriffen, angepöbelt oder gar missbraucht zu werden. Unterlegt werden
Viktorias Aussagen mit kurzen Sequenzen, in welchen ausschließlich
dunkelhäutige Männer agieren: Zu sehen sind Krawalle, in der U-Bahn
pinkelnde oder auf Frauen einprügelnde Männer und heulende Frauen.
Apokalypse now. In Deutschland.
Viktoria fungiert als Kronzeugin für schaurige deutsche Zustände in dieser
staatlichen russischen 25-minütigen TV-Reportage des Senders Swesda mit dem
Titel „Europa. Ein Paradoxon der Toleranz“, die am 14. Januar ausgestrahlt
wurde.
Drei Tage zuvor hatten ähnliche „objektive“ Berichte russischer staatlicher
Medien vor allem die Gemüter von Russlanddeutschen in Deutschland in
Wallung gebracht, die anschließend in mehreren Städten zu Tausenden auf die
Straße gingen. In dem Bericht war es um die Geschichte eines 13-jährigen
russlanddeutschen Mädchens namens Lisa gegangen, das 30 lang Stunden
verschwunden war. Angeblich sei Lisa entführt und von mehreren Flüchtlingen
vergewaltigt worden. Der Fall rief sogar Russlands Außenminister Sergei
Lawrow auf den Plan, der der deutschen Seite Vertuschung vorwarf.
Mittlerweile ist die Causa Lisa geklärt. Am Freitag bestätigte die Berliner
Staatsanwaltschaft, dass es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung
gegeben habe.
## Eine Gage ab 500 Euro aufwärts
Journalistische Standards in der Berichterstattung russischer Staatsmedien
sind ein Thema, mit dem sich das unabhängige [1][Moskauer Internetportal]
The Insider beschäftigt. Am Mittwoch dieser Woche stellte das Portal die
Ergebnisse seiner neuesten Recherchen ins Netz, die aufhorchen lassen.
Eine der Heldinnen ist die besagte Hannoveranerin. In Wirklichkeit heißt
sie Natalja und verdient ihren Lebensunterhalt damit, die bestellten
Geschichten an russische TV-Sender zu verkaufen. Ein Journalist von The
Insider gibt sich in einem Telefonat mit Natalja als Produzent eines
russischen TV-Senders aus, auf der Suche nach jemandem, der ihm für einen
Beitrag „einen bestimmten“ Content liefert.
In dem ins Netz gestellten Audiomitschnitt des Telefonats feilscht die
sogenannte Viktoria eiskalt um die Gage – 500 Euro und aufwärts – und gibt
an, dass sie bereits für mehrere TV-Beiträge zur Flüchtlingsproblematik in
Deutschland, wie zum Beispiel bei Perwyj Kanal, ren TV, NTV, Patin
gestanden habe.
Der zweite Audiomitschnitt von The Insider gibt ein Gespräch mit dem
Hannoveraner Foto- und Videografen Oleg wieder. Dieser ist bescheidener und
bereit, einen Videobeitrag für nur 200 Euro zu drehen. Dass es sich dabei
um ausgedachte Geschichte handeln sollte, stört ihn ganz offensichtlich
nicht.
## Beiträge ohne Hemmungen
The Insider ist ein unabhängiges russisches Internetportal mit einer
Million Besuchern und Besucherinnen im Monat, das sich ausschließlich durch
Werbeeinnahmen und Crowdfunding finanziert. Für großes Aufsehen sorgte
seine Enthüllung vom Dezember 2014. In der „Anatomie der Propaganda“ wurde
der Briefwechsel von einer Pro-Putin-Aktivistin mit einem Mitarbeiter der
präsidialen Administration veröffentlicht. Entlarvt wurden die Mechanismen
der Internetkontrolle durch den Kreml.
Der Chefreporter von The Insider und Autor der jüngsten Enthüllung, Roman
Dobrochotow, erzählte der taz, es sei nicht schwer gewesen, die beiden
Statisten in Hannover ausfindig zu machen. Die russischsprachige Szene in
Hannover sei klein, jeder kenne jeden, die falsche Viktoria habe man sofort
erkannt.
Auf den zweiten Protagonisten, Oleg, sei man gekommen, weil er vor Monaten
einen Beitrag über ein krebskrankes Kind gedreht habe, dessen Behandlung
von deutschen Ärzten abgebrochen worden sei, weil die Rechnung nicht
bezahlt worden sei, woraufhin das Kind gestorben sei.
Ein professioneller TV-Journalist, der jahrelang für das russische
Fernsehen gearbeitet hat und anonym bleiben möchte, bestätigte gegenüber
der taz, dass Beiträge auf Bestellung Usus seien. Dabei würde streng darauf
geachtet, dass der Kreis der Eingeweihten möglichst eng bleibe. Er ist sich
übrigens absolut sicher, dass die angeblichen Onkels und die Tante von
Lisa, die zahlreichen russischen Sendern Interviews gegeben haben,
Schauspieler waren.
## Humor gegen Propaganda
Das Fabrizieren solcher Videos hat offensichtlich Methode, und das nicht
nur seit der Flüchtlingskrise in Europa. Erinnert sei an den Fall des vor
einem Jahr angeblich von der Kiewer Junta im Donbas gekreuzigten Jungen.
Damals machten die Blogger eine Schauspielerin ausfindig, die bei mehreren
russischen TV-Reportagen als Zeugin fungiert hatte.
Dieser und ähnlicher Fakes in den russischsprachigen Medien nimmt sich der
im vergangenen Herbst in Brüssel eigens dafür geschaffene Dienst East
StratCom Task Force an. In den wöchentlichen Reports sind jeweils neue
Enthüllungen detailliert dargestellt. Eine der dort oft angegeben Quellen
heißt [2][www.stopfake.org], und hat sich bereits einen Namen in Bezug auf
den Ukrainekonflikt gemacht hat.
Eine andere bekannte Enthüllungswebsite heißt [3][www.noodleremover.news],
wo der Blogger Alexey Kowaljow mit Esprit und viel Humor der russischen
Propaganda auf die Schliche kommt. „Nudeln an die Ohren hängen“ ist nämli…
ein im Russischen beliebter Ausdruck für „Lügen auftischen“.
Auf die Frage, wie gefährlich seine Arbeit ist, antwortet Dobrochotow:
„Sehr gefährlich. Aber jemand muss es ja tun.“
29 Jan 2016
## LINKS
[1] http://theins.ru/
[2] http://www.stopfake.org/en/news/
[3] http://www.noodleremover.news
## AUTOREN
Jarina Kajafa
## TAGS
Propaganda
Russland
Medien
Russland
Bundesnachrichtendienst
Schwerpunkt Rassismus
Russland
Horst Seehofer
Berlin
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Medien in Russland: Reality statt Life
Im Mai blüht die russische Lügenindustrie: Belege und Veteranen werden
gefakt, Statisten für die Paraden gekauft. Ansonsten ist das Leben heil.
Untersuchung der „Kreml-Propaganda“: Nachrichtendienste eingeschaltet
Einem Medienbericht zufolge sollen Bundesnachrichtendienst und
Verfassungsschutz prüfen, ob der Kreml Desinformation in Deutschland
betreibt.
Manipulation von Russlanddeutschen: Katerstimmung in Marzahn
Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist Russlands Propaganda besonders
erfolgreich. Doch auch die NPD wittert Wählerstimmen.
Debatte Rechtsextreme Russlanddeutsche: Sex, Lügen und große Politik
Schon lange wollen organisierte Rechte Russlanddeutsche beeinflussen. Im
Fall der 13-jährigen Lisa ist das jetzt im Ansatz gelungen.
Kommentar Seehofers Russlandreise: Parteiübergreifend für den Vollhorst
CSU-Chef Seehofer besucht den Kreml. Sein Auftrag: gegenseitige Lockerung.
Dabei gibt es besonders für Putin noch einiges zu erledigen.
„Fall Lisa“ in Berlin-Marzahn: Nur versteckt, nicht entführt
Die Aufregung über ein angeblich entführtes und vergewaltigtes Mädchen war
groß. Dabei hatte sie Sorgen wegen der Schule - und traute sich nicht nach
Hause.
Moskau schaltet sich in „Fall Lisa“ ein: Kreml wittert Vertuschung
Russland kritisiert den Umgang mit „Fall Lisa“. Die Berliner Polizei weist
den Vergewaltigungs-Verdacht der Russlanddeutschen zurück .
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.