# taz.de -- Polizei räumt Wagenplätze in Leipzig: Eroberung der Wagenburgen | |
> In Leipzig räumt die Polizei zunehmend Wagenplätze. Die Stadt will nicht | |
> zu viele davon zulassen. Ein Besuch bei den Bewohnern in der | |
> Klingenstraße. | |
Bild: Bauwagenidyll in Leipzig: Der Platz wird immer enger, denn woanders räum… | |
Mit großen Schritten geht Stöpsel, klein und drahtig, mit an der Seite | |
geschorenen Haaren, zwischen den dicht stehenden Wagen umher. Es gibt | |
fahrtüchtige und solche, die keinen Meter mehr schaffen werden, | |
Pferdetransporter, LKWs und auch tatsächliche Bauwagen. Bretter liegen über | |
den tiefsten Matschkuhlen, Stöpsel geht quer durch die Pfützen durch, sie | |
will zur Perle des Platzes: dem Badwagen. Eine Eckbadewanne ist mit einem | |
Mosaik verziert. Nebenan steht eine Sauna, die sie nach Bedarf mit einem | |
Ofen beheizen, beides selbst gebaut. Der Wagenplatz in der Klingenstraße im | |
Leipziger Stadtteil Plagwitz ist ein Biotop. Und es gedeiht. | |
Von draußen dröhnen Bässe aus einem offenen rostigen Bus. Die 33-jährige | |
Stöpsel lebt seit sechs Jahren hier und versteht sich als Sprecherin des | |
Platzes. Wie die anderen bevorzugt sie es, nicht ihren vollständigen Namen | |
zu nennen. | |
Menschen, die in Wagen leben wollen, gibt es immer mehr, erzählt sie. Auch | |
immer mehr Normalos wie Studenten, auch Chirurgen, oder Anwälte. „Nicht | |
alle, die hier leben, sind politisch aktiv. Wir sind bunt | |
zusammengewürfelt“, sagt sie. | |
Die Wagenburg Klingenstraße liegt direkt neben einem Gewerbegebiet im | |
Leipziger Südwesten. Auch die Fläche des Wagenplatzes war früher ein | |
Gewerbegebiet. Das Wasser, das aus einem Brunnen am hinteren Teil der | |
Fläche kommt, ist so verschmutzt, dass die Bewohner es nicht trinken | |
können. | |
Jeder der 65 Bewohner wohnt in seinem eigenen Wagen. Bis auf eine | |
Freifläche in der Mitte ist nicht mehr viel Platz. Dort erahnt man unter | |
Gestrüpp einige Holzspielgerüste und offene Kochstellen. | |
## Die Stadt befürchtet Dominoeffekte | |
Leipzig wirbt seit Jahren mit Raum für alternativen Lebenswandel. 2008 | |
wurde die Stadt zum „Ort der Vielfalt“ gekürt, in der kreative Lebensräume | |
Platz haben. Bürgermeister Burkhard Jung (SPD) hatte kurz nach seiner Wahl | |
2013 bekräftigt, mehr Platz für alternatives Wohnen zu schaffen und die | |
bestehenden Projekte zu schützen. | |
Das gelingt auch, meint Linken-Politikerin Juliane Nagel. „In Leipzig gibt | |
es im Vergleich zu anderen Städten sehr viele Wagenplätze“, sagt sie. In | |
den letzten Jahren seien immer mehr entstanden, im Moment gibt es 10 | |
Plätze, vielleicht auch 20. | |
Nagel sitzt im Mensacafé neben dem Kulturzentrum Moritzbastei im | |
Stadtzentrum. Studenten trinken Kaffee, während Nagel, die in der linken | |
Szene schlicht „Jule“ heißt, Fragen beantwortet. Seit 2014 ist sie Mitglied | |
im Sächsischen Landtag. Für die Wagenburgbewohner ist sie eine Vertraute, | |
auch wenn sie wissen, dass „Jule“ das wohl nicht alles verändern kann. | |
„Leipzig bekennt sich zu seinen Wagenplätzen und möchte sie schützen“, s… | |
Nagel. Aber die Stadt befürchte einen „Dominoeffekt“ und wolle nicht, dass | |
noch mehr Wagenplätze entstehen. Deshalb gehen Einsatzkräfte gegen | |
eigenmächtige Besetzungen vor. Sie räumen immer öfter. | |
Eine der Geräumten ist Katrin. Sie lebt im Moment zu Gast bei Stöpsel und | |
den anderen in der Klingenstraße. Die schwarze Schminke um die Augen der | |
28-jährigen ist verwischt, ihre dunklen Haare fallen aus der Kapuze, kalter | |
Wind weht über den Platz. Katrin redet langsam, macht in den Sätzen längere | |
Pausen, während sie die Orte zeigt, an denen sie schon ihren Wagen | |
abgestellt hat. Katrin ist vor einigen Jahren mit einer Gruppe von etwa 15 | |
Leuten aus Regensburg nach Leipzig gezogen. | |
## Die städtischen Brachflächen | |
Sie dachten, Leipzig kriminalisiere das Leben im Bauwagen nicht. | |
Mittlerweile sehen sie die Sache etwas anders. Als rechtlich eingetragene | |
Lebensform existiert das Leben im Wagen auch in Leipzig nicht. Aber | |
geduldet wird lange, und so kommen sie für eine Zeit auf einer städtischen | |
Brachfläche im Stadtteil Plagwitz unter, dem Jahrtausendfeld. Einer großen | |
Wiese, umgeben von gut sanierten Wohnhäusern. | |
Katrin hat Psychologie studiert, kann sich die Ausbildung zur Therapeutin | |
aber nicht leisten. Ohnehin kann sie es sich nicht vorstellen, immer nur zu | |
arbeiten. Gern würde sie zwei Wochen lang arbeiten, dann wieder nicht. Darf | |
man solche Träume aussprechen? Katrin macht es, und dabei schwingt die | |
Frage mit, wie frei wir sind, wenn sich Menschen die Erlaubnis, ein | |
einfaches Leben draußen zu führen, so hart erkämpfen müssen. | |
Von der städtischen Brachfläche müssen sie und die anderen nach einiger | |
Zeit wieder runter, die Stadt plant, eine Schule zu bauen. Eine | |
Alternativfläche wird ihnen nicht angeboten. Weil sie sich nicht anders zu | |
helfen wissen, fahren sie ihre Wagen Anfang Dezember 2015 auf einen Platz | |
im Leipziger Osten nach Paunsdorf. „Wir haben uns Mühe gegeben, einen Ort | |
zu finden, an dem wir niemanden stören“, sagt Katrin. Gleich nach der | |
Besetzung nehmen die Bewohner Gespräche mit dem Sportverein Fortuna Leipzig | |
auf, der die Fläche pachtet. | |
Eines Morgens gegen sechs Uhr hören die Bewohner laute Motorengeräusche. | |
Die Polizei fährt mit Transportern auf den Platz und schleppt die Wagen auf | |
den Seitenstreifen der anliegenden Hauptstraße. Die Bewohner haben jetzt | |
eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. | |
Sie bitten seitdem um einen Termin beim Ordnungsbürgermeister der Stadt. | |
Sie wollen eine neue Fläche und über die Anzeige sprechen. Doch die | |
Kommunikation ist schwierig, die Ansichten sind zu verschieden. Auf der | |
einen Seite die Bürokratie der Stadt, die keine Regel kennt, die das Leben | |
im Bauwagen erlaubt. Auf der anderen die Bewohner, die auch „aufmüpfig“ | |
sein können, wie sie selbst von sich sagen, und wenig Verständnis für klare | |
Verwaltungswege haben. Als der Bürgermeister sie nicht zu einem Termin | |
vorlassen will, „besuchen“ sie ihn, wie sie es formulieren. Bei einer | |
Demonstration dringen sie in das Rathaus zu ihm ins Büro vor. Sie sprechen | |
mit ihm, aber ein Angebot für eine neue Fläche gibt es nicht. | |
## Die Gentrifizierung lauert schon | |
Die Politikerin Juliane Nagel glaubt, dass die Kommunikation besser laufen | |
würde, wenn es einen festen Ansprechpartner gäbe, der sich mit der | |
Lebenswelt auf Wagenplätzen auskennt. „Die meisten Menschen, die auf | |
Wagenplätzen leben, verstehen ihr Leben nicht mehr als politische | |
Intervention, sie wollen das legal praktizieren.“ | |
Stöpsel und die Bewohner der Klingenstraße pachten die Fläche bei einem | |
privaten Vermieter seit sieben Jahren. Sie zahlen Nebenkosten, Trinkwasser | |
holen sie in einem Wohnprojekt gegenüber. Allerdings steht die Fläche zum | |
Verkauf. Immer wieder gibt es Interessenten. Dauerhaft an die Wagenplätzler | |
verpachten möchte der Vermieter nicht. Einige vermuten, dass er mit dem | |
Verkauf wartet, bis die Umgebung luxuriöser geworden ist. | |
In Plagwitz ist die Gentrifizierung noch nicht eingeschlagen. Aber jeder | |
vermutet, dass sie kommt. Der alte Güterbahnhof ist schon in | |
Einfamilienreihenhäuser verwandelt. Es gibt noch ganze Straßenzüge mit sich | |
selbst verwaltenden Hausprojekten oder leer stehenden Wohnhäusern. Plagwitz | |
ist dort, wo Berlin noch vor zehn Jahren gewesen sein muss: an einem Punkt, | |
an dem sich vielleicht noch etwas entscheiden lässt, etwas gedrosselt oder | |
abgewendet werden kann. | |
„Die neu Hergezogenen sind eigentlich positiv interessiert an uns“, meint | |
Stöpsel. Das hat sie vorher auch anders erlebt. Bevor sie nach Leipzig zog, | |
hat sie in Braunschweig im Bauwagen gelebt und ist dort mehrfach von | |
Rechten bedroht worden. Seitdem hat sie alles Wichtige nachts neben sich | |
liegen: Schuhe, Klamotten und eine Axt. | |
So eine Intoleranz hat sie in Leipzig noch nicht erlebt. Bis zum letzten | |
Herbst. Da hat etwas Neues angefangen, was immer stärker zu spüren ist. Die | |
Stimmung verschärft sich. In Leipzig hat es Brandanschläge auf Wohnungen | |
von Linken gegeben. Busse, die zur Demonstration gegen Pegida fahren | |
wollten, wurden mit Steinen beworfen. | |
## Nachtwache wegen Nazis | |
Linken-Politikerin Juliane Nagel hält geheim, wo sie wohnt. Häufig erhält | |
sie Drohungen über Facebook, vier davon hat sie im letzten Jahr zur Anzeige | |
gebracht. | |
Auch in der Klingenstraße fühlen sie die Veränderung. „Viele haben dadurch | |
Angst gekriegt“, meint Stöpsel. Sie sitzen zu sechst in einem der | |
ausgebauten Wagen, die meisten auf dem Boden oder einigen Matratzen. Krümel | |
und Sägespäne aus dem Ofen liegen zwischen den Schaffellen, die den Boden | |
bedecken. Es riecht nach Rauch von Zigaretten und Feueranzünder. Brot, | |
Blauschimmelkäse und Honig liegen in der Mitte, und jeder bedient sich. „Es | |
ist nur ausnahmsweise so unordentlich“, sagt Arun über sein Heim, während | |
er Kaffeebohnen in einer Mühle mahlt. | |
Sein pinkfarbener Irokesenhaarschnitt hängt schlapp zur Seite. Am Vortag | |
hätten hier einige gefeiert. Nach einer Party wollten sie eigentlich | |
schlafen gehen. „Da wurde eine Nachricht von den Nazis abgefangen: Jetzt | |
geht‘s los“. Jemand hat sie an Arun weitergeleitet, und dann war an | |
Schlafen nicht mehr zu denken. „Wir standen bis vier oder fünf Uhr morgens | |
am Tor, aber nichts ist passiert“. | |
Das ist nicht immer so. In der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember wurden in | |
drei Leipziger Stadtteilen 13 ausgebaute Wagen angezündet. In Plagwitz | |
waren es vier, die vor einer Reihe linker Hausprojekte parkten. Durch | |
Zufall haben Arun und ein paar andere die brennenden Reifen gesehen und | |
konnten die Brandsätze von den Reifen reißen. Die Wagen in Plagwitz sind | |
nicht ausgebrannt. Ob die Taten politisch motiviert waren – dazu möchte die | |
Leipziger Polizei nichts sagen. „Koordiniert“ seien sie gewesen, da alle | |
Autos etwa zur selben Zeit angezündet wurden. | |
Umso unwohler fühlen sich Katrin und die anderen, als sie von der Polizei | |
nach der Räumung mitten auf einer Hauptstraße abgestellt werden. Sie | |
beeilen sich, mit ihren Wohnwagen in einen Park zu gelangen, in dem sie | |
sich geschützter fühlen. „Aber es dauerte nur einige Stunden, bis die | |
ersten Nazis pöbelnd vor unseren Wagen standen“, sagt Katrin. Dieses Mal | |
kommt die Polizei, um nicht sie, sondern die Rechten zu vertreiben. Nachts | |
hören sie oft, wie Menschengruppen an ihnen vorbeiziehen und ihnen drohen. | |
Zwei Wochen stehen sie im Park, bis sie in der Klingenstraße schließlich | |
einen Unterschlupf finden. Vorläufig. | |
12 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Anna Bordel | |
## TAGS | |
Wagenburg | |
Leipzig | |
Linke | |
Nazis | |
Die Linke Berlin | |
Schwerpunkt taz Leipzig | |
Kunstwerk | |
Gentrifizierung | |
Flensburg | |
Friedrichshain-Kreuzberg | |
Studierende | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Alternativ leben in Berlin: Bauwagen trotzen der Gentrifizierung | |
Trotz des Runs auf Baugrundstücke bleibt die Zahl der Wagenplätze konstant. | |
Da die Gefahr einer Räumung immer besteht, will die Linke neue Plätze | |
schaffen. | |
Wagenplätze in Leipzig: Einheizen für die Unabhängigkeit | |
Im Winter bestimmt der Ofen den Rhythmus in der Wagenburg. Sehnsucht nach | |
einer Wohnung kommt dennoch nicht auf. Ein Besuch. | |
Gentrifizierung in Leipzig: Eine Frage der Mischkultur | |
Der Westpol ist ein Ausstellungsort, der seinesgleichen sucht. Nun steht | |
das Projekt vor dem Aus. Doch die Betreiber geben nicht auf. | |
Gentrifizierung in Leipzig: Vermaledeite Aufwertung | |
Auch der ehemals unattraktive Leipziger Osten wird immer beliebter. Eine | |
linke Gruppe hat dazu eine Informationsbroschüre rausgebracht. | |
Bauwagenplatz in Flensburg: Luftschlossfabrik droht die Räumung | |
Die Stadtverwaltung will den Bauwagenplatz und die Kulturstätte | |
„Luftschlossfabrik“ räumen. Stadtratsfraktionen fordern einen Aufschub. | |
Extrempreise für Immobilien: Abstellkammer in Bestlage | |
Ein Makler bietet eine 10-qm-Wohnung in Kreuzberg für fast 100.000 Euro an. | |
Ein Witz? Nein: Es zeigt, was auf dem Berliner Immobilienmarkt schon | |
möglich ist. | |
Wohnungsmarkt für Studierende: Entspannt in Chemnitz | |
In vielen ostdeutschen Städten sind die Mieten günstig. Wer hier studiert, | |
kann sich seine Wohnung aussuchen – und ein besonderes Flair erleben. |